Graun

Publiziert in 3 / 2004 - Erschienen am 12. Februar 2004
Fotos: Florian Peer, Text: Andrea Perger [F] Versunkene Heimat [/F] [K] Ortsnamensbedeutung: Erstmals erwähnt 1140 als "Curun", Mundart: "Graun", amtl. ital. Name: "Curon Venosta". Der Name ist auf das romanische Wort "corona" zurückzuführen, was Felsband oder runder Felskopf bedeutet. Quellen: "Erinnerungen an die alte Heimat", herausgegeben von der Gemeinde Graun 2000 "Die Tragödie am Reschensee" im St. Antoniusblatt Nr. 9 vom September 1988 Informationen: Josef Plangger [/K] [F] Historisches [/F] Der St. Anna-Hügel war eine Fluchtburg der keltisch - illyrischen Urbevölkerung, dies beweist, dass dieses Gebiet bereits in vorchristlicher Zeit bewohnt war. Hier führte die berühmte Römerstraße Via Claudia Augusta vorbei, so wurde in der Nähe des alten Dorfes eine römische Münze, ein römischer Helm und eine Lanze gefunden. 916 kam das Vinschgauer Oberland zum Herzogtum Schwaben und so erlosch bis zum 16. Jahrhundert die rätoromanische Umgangssprache ganz. Erstmals taucht der Name von Graun 1140 auf. Durch den Reise- und Warenverkehr im hohen und ausgehenden Mittelalter entwickelte sich Graun zum beschaulichen Straßendorf. Neben Transportdiensten vom 16. bis zum 18. Jh. bildeten Ackerbau und Viehzucht die Lebensgrundlage, die der Dorfbevölkerung durch die Seestauung auf unrechte Weise entzogen wurde, denn im Bereich der Seenplatte erstreckten sich fruchtbare Äcker und Wiesen. Einen ersten Plan zur Erbauung eines Kraftwerks südlich der Malser Haide gab es bereits 1911. Ende der 40er Jahre kam es zur Seestauung und Erbauung der damit verbundenen Kraftwerke. 1946 Baubeginn der Staumauer und des Kanals nach Schluderns, 1949 erste Probestauungen, 1950 kam es zur gänzlichen Unterwassersetzung von Graun und Teilen von Reschen sowie einer Hofsiedlung in St. Valentin. 1949 begann der Aufbau von Neugraun. [F] Dorfzahlen [/F] Die ehemaligen Naturseen hatten in Reschen eine Größe von 97 Hektar, in Graun 67 Hektar. Der heutige Reschensee ist 6,5 km lang und 1,5 km breit und erstreckt sich über eine Fläche von 677 Hektar. Teilweise bis zu drei Jahren lebten Familien in dem provisorischen Barackenlager am Eingang zum Langtauferer Tal. Jeder Familie wurden 34 Quadratmeter zugewiesen auf denen teilweise an die 10 Menschen unter widrigen Umständen, vor allem im Winter, lebten. Im Schuljahr 1948/49 waren in Graun 97 Schüler eingeschrieben, 1950/51 waren es nur mehr 29. Von den etwa 670 Einwohnern blieben nur 250 in Graun. 107 Häuser mit Wirtschaftsgebäuden in Graun, 47 in Reschen und 9 in St. Valentin fielen der Stauung, neben etlichen Hektaren Kulturgrund zum Opfer. Viehbestand von Graun im Jahre 1946: 1116 Rinder, 500 Schafe, 85 Pferde und 80 Ziegen. Vom stolzen Rinderbestand blieben lediglich 250 nach 1950 übrig. Heute leben in etwa 350 Menschen in Graun. Diese Zahlen sollen verdeutlichen, wie die Stauung Dorf und Familien, aber auch eine einmalige Naturlandschaft zerrissen hat. [F] Dorfleben [/F] Was Graun erlitten hat, ist für mich im modernen Europa unvorstellbar: Der Verlust der Heimat, der Anblick des Dorfes in Trümmern, die Machtlosigkeit gegenüber der gnadenlosen Obrigkeit in Rom und der Gesellschaft Montecatini, die bei der Stauung rücksichtslos vorging. Deshalb möchte ich dieses Dorfportrait ausschließlich diesem Thema widmen. Im St. Antoniusblatt wird ein Augenzeuge zitiert: "Graun liegt in den letzten Zügen. Wie bei einem Todkranken stirbt Glied für Glied ab. Tag für Tag dringt das Wasser weiter vor, Tag für Tag erdröhnen die Sprengungen […]". Es sind diese und ähnliche Schilderungen, die mich erahnen lassen, welche Tragödien sich im Jahre 1950 in Graun abgespielt haben. Bereits unter der Donaumonarchie gab es die Idee eines Reschenstausees. 1920 griff Italien diese Idee auf und erteilte die Konzession für eine Stauung um 5 Meter, was weder Graun noch Reschen gefährdet hätte und nur die Ablöse von Grund und Boden in vertretbarem Ausmaß gefordert hätte. Doch nach der Übernahme dieser Konzession durch den Konzern Montecatini legte diese 1936 ein Ausführungsprojekt für die Stauung um 22 Meter vor. Wie vom Gesetz vorgesehen wurde dieses Projekt auch in Graun aufgeschlagen, jedoch nur in italienischer Fassung, so dass nach den obligatorischen 8 Tagen der italienische Gemeindesekretär "keine Einwände von Seiten der Bevölkerung" meldete. 1940 erhielt die Stromgesellschaft die Genehmigung zur Durchführung des Projekts. Die Kriegswirren verzögerten jedoch die Arbeiten. Am 20. März 1947 erschienen zwei Vertreter der Montecatini in Graun und gaben die Wiederaufnahme der Arbeiten bekannt. Ein Aufschrei ging durch die Bevölkerung, doch der Sieg wirtschaftlicher Interessen über humane Bedürfnisse war besiegelt. Selbst eine Audienz beim Papst des engagierten Pfarrers Alfred Rieper konnte das Unheil nicht mehr abwenden. Abends in den Stuben machten sich die Familien nun Gedanken, ob man einen unsicheren Neubeginn in Neugraun wagen sollte, oder die Gegend verlassen sollte. Wie schwer muss es wohl fallen, diese Entscheidung zu treffen. Man berichtet mir von Graunern, die weggezogen sind und in der Ferne nie glücklich wurden, oder von einem Mann, der den Plangger Peppi immer darum bittet ihm Kräuter aus der Heimat zu schicken. Das Wasser stieg nach Beendigung der Mauer indes immer weiter. Die Menschen lebten noch in ihren Häusern, die neuen Häuser befanden sich noch im Rohbau, als das Wasser bereits Graun erreichte. Augenzeugen berichten, dass das Wasser über Nacht die neue Kartoffelernte im Keller überschwemmte. Die Grauner standen unter Zeitdruck, waren gehetzt in ihren Entscheidungen und die Montecatini blieb hart, blind vor dem, was sich vor ihren Augen abspielte. Häuser wurden gesprengt, kaum dass die Haustür hinter den Bewohnern zugefallen war. Peppi erzählt mir, wie er damals 17-jährig seine 80- jährige Großmutter aus dem Dorf hinausbegleitete. Wie sich die alte Frau, die seit ihrer Jugend im Dorf lebte immer und immer wieder umdrehte, den Blick nicht abwenden konnte, von dem was man "Heimat" nennt. Der Neuanfang war schwer und viele, mehr als die Hälfte verließ das Dorf. Familien wurden zerrissen. Rosmarie Baldauf, deren Familie nach Tirol zog, beschreibt den schwierigen Neuanfang in der Fremde und meint: "Es gab kein Abschiedsfest. Wie hätte man auch feiern können?" Die Kirche in Graun war die größte des Tales und der letzte Gottesdienst am 9. Juli 1950 in der leer geräumten Kirche war kein wirklicher Abschied. Doch das Bauwerk wehrte sich gegen seine "Eroberer" und ging dann doch bezwungen in die Knie. Doch selbst das gesprengte Holz der Dachstühle war Montecatini - Besitz. Wer es versuchte zu sammeln wurde verhaftet. Aber die Grauner sind stark. Obwohl die Wunden noch da sind, hat man den Neuanfang geschafft. Als Sinnbild für den einstigen Schmerz, für das Unrecht, das hier geschehen ist und beinahe wieder geschieht, ragt still der romanische Kirchturm aus dem Wasser, das das Unrecht niemals reinwaschen wird können. [F] Gedanken [/F] Viel Wasser staut sich in dem See Ein Turm heraus ragt mächtig in die Höh´, - und lautlos klagt er alle an, dass sich ein wehrlos´ Volk nicht helfen kann. Doch der Turm zum Himmel ungebrochen - weist empor! Auch du gebeugt, doch nicht gebrochen - schau empor! Und alle guten, stillen Mächte, stehn die bei im Kampf um deine Rechte! Von Karl Stecher, ehemaligem Bürgermeister von Graun.

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