Mitten in der sechsten Aussterbewelle
Der Vortrag über den Verlust der Artenvielfalt in Mals mahnte dringenden Handlungsbedarf des Menschen an.
Mals - Die beiden Wissenschaftler Carsten Brühl, Professor am Institut für Umweltwissenschaften in Landau, und Johann Zaller, Ökologe an der BOKU in Wien, folgten der Einladung der Umweltschutzgruppe Vinschgau, der Waldorfschule Mals und der Sozialgenossenschaft vinterra und brachten die Botschaft rund um den Schutz der Arten auf den Punkt. „Es gilt, jetzt den Turbo einzuschalten“, sagte Carsten Brühl am Abend des 11. Mai auf der Terrasse des Bistros der Sozialgenossenschaft vinterra in Mals, „in den letzten 27 Jahren sind 70 Prozent der Biomasse an Insekten schlichtweg verschwunden. Noch einmal 27 Jahre Zeit haben wir nicht“. Das sechste Massensterben auf der Erde schreitet voran, es ist vor allem dessen Geschwindigkeit, die besorgniserregend ist. Für den Menschen werde das Verschwinden der Arten ein noch größeres Problem werden, als es jetzt schon ist, bestätigt Johann Zaller. Er verweist auf jene Pflanzen, aus denen medizinische Wirkstoffe und Medikamente gewonnen werden oder auf die Gesundheitsförderung artenreicher Almwiesen für die Weidetiere. „Wenn eine Art ausgestorben ist, kommt sie nicht mehr zurück. Wir reden meist von Ökosystemen und meinen damit Wälder, Wiesen oder Meere. Doch der Mensch ist ebenso ein Ökosystem und beherbergt etwa gleich viele Mikroorganismen wie menschliche Zellen“.
Denn wir wissen nicht, was wir tun
Der Mensch fördere das Aussterben, ohne recht zu wissen, was ihm da vor den Augen entweicht, sagt Zaller: „Niemand weiss, wie viele Arten tatsächlich auf unserer Erde leben. Schätzungen schwanken zwischen 10 und 100 Millionen Arten. Nur ein Bruchteil davon ist wissenschaftlich beschrieben“. Unsere Kenntnis über Pilze und Mikroorganismen sei um ein Vielfaches spärlicher. Doch gerade die Wechselwirkungen und das Zusammenspiel der Arten untereinander mache die Gesundheit der Natur – und des Menschen aus. „Wir müssen uns angewöhnen, in Systemen zu denken“. Vielfältige Ökosysteme sind stabilere Ökosysteme, bestätigt Brühl und verweist auf die klimatischen Extremsituationen, die in Zukunft zunehmen werden. Die Agrarlandschaft in Mittel- und Zentraleuropa verändere sich dramatisch; auf der Strecke bleibt die biologische Vielfalt. Weniger Hecken, weniger strukturreiche Landschaften, mehr Dünger und mehr Pestizide trügen zur Verarmung der Umwelt bei. „Eine wissenschaftliche Studie, die hunderte Weizenfelder in neun verschiedenen europäischen Ländern untersuchte, zeigte, dass der Hauptverursacher für den Rückgang der Arten – Pflanzen, Insekten und Vögel – der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ist“, sagte Brühl.
Schritt für Schritt zum Artenschwund
Eingeleitet wurde der Vortrag im Namen der Organisatoren von Koen Hertoge, Mitbegründer von PAN Italia und seit dem 10. Mai 2022 auch Präsident von PAN Europe, dem europäischen Pestizid-Aktions-Netzwerk mit Sitz in Brüssel. „Auch in Südtirol sind die Maßnahmen zum Schutz der Umwelt – und damit zum Schutz der menschlichen Gesundheit – viel zu wenige“, sagte er. Einige Erklärungen dafür bot Hanspeter Staffler, Landtagsabgeordneter der Südtiroler Grünen. Und er fand sie in den Strukturen der politischen Verwaltung: „Bis 2012 gab es die Abteilung Naturschutz in der Südtiroler Landesregierung. Danach wurden Natur, Landschaft und Raumplanung zusammengelegt. Nun hat das Thema Natur keine Sichtbarkeit mehr“. Ähnlich schwierig gestalte sich das Zusammenspiel von Forstbehörde mit der Abteilung Landwirtschaft. Die Aufgabe der Forstbehörde sei unter anderem die Kontrolle der Landwirte. „Wenn beide Behörden in einer Abteilung stecken, gestaltet sie sich natürlich sehr schwierig“. Ebenso vertrackt sei der Schutz der Umwelt innerhalb des zweiten Gesetzgebungsausschusses, der sich mit Land- und Forstwirtschaft, Umweltschutz, Raumordnung, öffentlichen Gewässern und Energie befasst: „Wenn von acht Abgeordneten vier Landwirte in der Kommission sitzen und wenn der Vorsitzende, dessen Stimme bei Stimmengleichstand doppelt zählt, ebenso Landwirt ist, dann sind Umsetzungen für den Artenschutz nicht an der Tagesordnung“.
Jugend braucht Perspektiven
Die Jugend, sind sich Brühl und Zaller einig, brauche Perspektiven für ihre Zukunft. Trotz aller dramatischen Entwicklungen gäbe es positive Zeichen, dass der Artenschwund auch umgekehrt werden könne, sagt Brühl, beispielsweise in Costa Rica: „Über die Besteuerung von fossilen Energien konnten Subventionen für die Bauern erbracht werden, die, Baum für Baum, dem enormen Schaden der Abholzung des Regenwaldes entgegenwirkten. Die spärlichen 25 Prozent Waldfläche der 1940er Jahre konnten sie heute wieder auf knapp 80 Prozent aufforsten. Hier hat ein ganzes Land mitgewirkt, die Biodiversität zu fördern. Weil die Menschen verstanden haben, wie wichtig sie für ihr Leben ist“. Eine neue Forschungsarbeit führte die beiden Wissenschaftler mit Studentinnen und Studenten aus den USA, Guatemala, Kolumbien, Ghana, Syrien, Russland und Deutschland in den Vinschgau. Sie untersuchen die Auswirkungen der Landwirtschaft auf die Natur – von Naturns bis St. Valentin auf der Haide. Damit soll, in einem weltweit einzigartigen Ansatz, ermittelt werden, ob Pestizide für den Rückgang etlicher Arten nicht nur in den Monokulturen der Talsohle, sondern auch in den Höhenlagen verantwortlich sind.
Mals weiterhin ein Generator
Lobbyarbeit für den Artenschutz sei Knochenarbeit, sagte Hanspeter Staffler, „in den letzten 40 Jahren ist wenig passiert“. Fest steht, dass der Rückgang der Artenvielfalt für das Überleben des Menschen auf dem Planeten genauso dramatisch wie der Klimawandel ist. Doch die Zukunftsszenarien rund um den Artenschwund sind noch weniger vorhersehbar. Im Anschluss an den Vortrag war Zeit für Fragen aus dem Publikum. „Wie kann ich meine Gemeinde schützen?“ - war eine der vielen Fragen. Für den Vortrag angereist war auch der Schweizer Biologe und Imker Michael Eyer, der seit langem über Honigbienen forscht und dessen Interesse auch dem Wildbienen- und Insektenrückgang gilt. Für die Malser, deren Volksabstimmung gegen den Einsatz von Pestiziden auf ihre Umsetzung wartet, hatten Hanspeter Staffler und die Referenten eine Botschaft. „Über euch wird gesprochen und ihr seid Vorbild für viele Umweltschützer“, sagte Zaller, „mittlerweile gibt es Netzwerke europäischer Gemeinden ohne Glyphosat oder anderer Pestizide. Es wäre gut, wenn sich auch die Kirche auf ihren Grundbesitzungen für Pestizidfreiheit einsetzen könnte“. „Mit Mals kam eine Sensibilität für die Thematik auf“, befand Hanspeter Staffler: „es hat hier bei uns viel in die Wege geleitet“. Und für den Hochschulprofessor Brühl ist klar: „Über den Malser Weg werde ich weiterhin mit meinen Studierenden aus der ganzen Welt sprechen“.