„Genau hier war es“
Sepp hat gesehen, wie Markus Dapunt hingerichtet wurde
Wenn er einmal ins Erzählen kommt, …
Der „Oberdörfer Sepp“ beim Bildstöckl, das seit dem Herbst 2021 am „Kiaweg“ in Kortsch an die Hinrichtung von Markus Dapunt erinnert.
Markus Dapunt 1923-1944

„Mir fahlt nix“

Der „Oberdörfer Sepp“ hat viel zu erzählen. Vom Besuch der Katakombenschule bis zum Einmarsch der Wehrmacht und der Erschießung eines Deserteurs aus dem Gadertal.

Publiziert in 6 / 2025 - Erschienen am 25. März 2025

Kortsch - „Und iatz fohrn mir aui af di Wiesn zu der Stell“, sagt der „Oberdörfer Sepp“, erhebt sich von der Bank vor dem Haus seines Heimathofes „Hof am Ort“ in Kortsch und blinzelt in die Morgensonne. Mehrere Stunden lang hat er uns von früher erzählt, vom Besuch der Katakombenschule, dem Einmarsch der Wehrmacht und der Erschießung des Deserteurs Markus Dapunt am 29. August 1944 in der Nähe des Sportplatzes in Kortsch. Die genaue „Stell“ will er uns jetzt zeigen. Fast nichts verrät, dass Josef Telser, den alle den „Oberdörfer Sepp“ nennen - „einen Josef Telser kennt hier keiner“ - fast 92 Jahre auf dem Buckel hat. Der Name Oberdörfer geht auf einen alten Hofnamen in Kortsch zurück. Geboren ist der Sepp am „Hof am Ort“ am 11. September 1933. Sein Vater Kaspar hatte 1931 die Kortscherin Katharina Thomann, die Erbin des „Hofes am Ort“, geheiratet. 1931 kam Johanna auf die Welt, 1933 der Sepp. 1935 folgte Luise, zwei Jahre später Cäcilia und 1939 Katharina. Johanna, die in die Schweiz heiratete, ist gestorben.

Der Vater wählte „außi“

Obwohl er noch nicht ganz 6 Jahre alt war, kann sich Sepp noch genau daran erinnern, wie sein Vater Kaspar Anfang August 1939 vom italienischen Heer einberufen wurde: „Er musste nach Catanzaro in den Süden Italiens.“ Mit der Nachricht der Einberufung wurde die Familie an einem Nachmittag überrascht: „Mein Vater, sein Bruder Sepp, der mein ‚Teit’ war und bei uns als Knecht arbeitete, die Mutter, eine Dirn und ich waren gerade im Anger bei der Grummeternte.“ In Catanzaro ist Kaspar aber nur wenige Wochen geblieben, dann musste er nach Hause, um zu „wählen“. Sepp: „Entwedr fir Italien odr außi“. Entschieden hat er sich für „außi“, „obwohl die Mutter nie bereit gewesen wäre, den Hof und die Heimat zu verlassen.“ Als Kaspar nach der „Wahl“ wieder nach Catanzaro fuhr, „war sein Koffer schon pronto“, denn alle, die für Deutschland optiert hatten, „wurden umgehend verschickt.“ Die sogenannten Dableiber wurden in eine Art Kolonie nach Sardinien gebracht. Später wurde Kaspar als Vater von 5 Kindern zu keinem Heer mehr eingezogen.

„Ich könnte sie zeichnen“

„Sie war hoch 20, groß, schlank, hatte ein schmales Gesicht und schwarze Haare.“ Diese Details der Italienischlehrerin, die er bei der Einschulung im Herbst 1939 zum ersten Mal sah, sind Sepp deutlich im Kopf geblieben: „Ich könnte sie heute noch genau zeichnen.“ Besondere „Probleme“ habe es in der Schule aber nicht gegeben, „denn die Lehrerin verstand nur Italienisch und wir nur Deutsch.“ Die Zeit unter dem Faschismus bringt er so auf den Punkt: „Sie haben die Leute nur ‚seggiert’, immer und überall.“ Sogar beim Ausbringen des Mistes: „Wenn wir mit einer Fuhre auf den Acker wollten, mussten wir zum Teil auch auf der Hauptstraße fahren und dort musste der ‚Loatrwogn’ jedes Mal zugedeckt werden.“ Traktoren gab es damals noch keine, man arbeitete mit Ochsen und Kühen. Am „Hof am Ort“ wurde übrigens Braunvieh gehalten, und zwar bis zu 30 Stück und mehr. Es wurde viel Korn, Weizen, Gerste und Hafer angebaut. Obstbäume gab es nur vereinzelt: Zwetschgenbäume sowie Zwiefler, Kalterer, Kanada und andere alte Apfelsorten.

Schulhefte hinter der Schürze versteckt

Nach zwei weiteren Jahren italienischer Schule besuchte Sepp ab dem Herbst 1942 eine sogenannte Katakombenschule. Heimliche Schulen gab es auf mehreren Bauernhöfen in Kortsch. Sepp und eine Gruppe weiterer Kinder machten sich immer nachmittags auf den Weg, um möglichst unauffällig zur „Schule“ zu gelangen. Sein Unterrichtsraum befand sich auf dem Gasshof beim oberen Rechenmacher im Unterdorf. Lehrerin war Johanna Steiner aus Laas. „Die Schulhefte haben wir Buben immer hinter den Schürzen versteckt“, erinnert sich Sepp.

Äpfel für die Soldaten der Wehrmacht

Bis heute wie ein Film vor den Augen spielt sich im Kopf von Sepp auch eine Begebenheit ab, die er im September 1943 erlebte. Er war gerade dabei, mit seinem Vater Kanada-Äpfel zu pflücken, als an einem Nachmittag plötzlich „vier Soldaten mit Maschinenpistolen, es können auch sechs gewesen sein, auf der Hauptstraße in Richtung Meran marschierten.“ Hinter ihnen kamen drei Motorräder mit Beiwagen mit jeweils drei bewaffneten Soldaten und ein kleiner Lastkraftwagen mit einer ganzen Gruppe von Soldaten. Es handelte sich um Soldaten der Wehrmacht, die damals über den Reschen und den Brenner nach Südtirol einmarschierte. Die Soldaten baten um Äpfel, „und mein Vater warf ihnen im Vorbeifahren einige zu.“

Wie Vieh in die Waggons gepfercht

Heimlich mitangesehen - „der Vater durfte davon ja nichts erfahren“ - haben Sepp und einer seiner Schulfreunde, wie viele italienische Soldaten, die in der Drusus-Kaserne stationiert waren, von den Soldaten der Wehrmacht in den Zug verfrachtet wurden. Zu Gesicht bekamen sie die Szene, weil sie einer „komischen“ Musik, die von der Kaserne ausging und bis nach Kortsch zu hören war, auf den Grund gehen wollten. Die italienischen Soldaten seien wie Vieh in die Waggons des mit Kohle betriebenen Güterzuges gepfercht worden.

„Die Augen haben sie ihm verbunden“

Einen viel schlimmeren Vorfall erlebten Sepp und drei Buben aus Kortsch, die übrigens nicht mehr leben, am 29. August 1944. Mehrere Wochen zuvor hätten zwei Männer aus Südtirol, ein Passeirer und ein Gadertaler, in der von der Wehrmacht besetzten Drusus-Kaserne ihren Eid leisten sollen, „aber einen Tag vor dem Schwur sind sie geflohen“, sagt Sepp. Während dem Passeirer die Flucht geglückt sei, „wurde Markus Dapunt, der fast schon bis ins Gadertal gekommen war, aufgegriffen und nach Schlanders gebracht.“ Sepp vermutet, dass er verraten wurde. Mit der Erschießung des Deserteurs, der 21 Jahre alt war, wollte die Wehrmacht offensichtlich ein Exempel statuieren. Sepp: „Wir waren beim Hüten oberhalb des Schießstandes und haben plötzlich einen außerordentlichen Lärm gehört.“ Vom Wunder geplagt, pirschten sich die Buben vor und verfolgten das Geschehen, so gut versteckt wie nur möglich, mit. Sepp kann sich erinnern, wie der gefesselte und zu Tode verurteilte Gadertaler an eine Säule gebunden wurde, die eigens aufgestellt worden war. Es war eine Menge von Soldaten vor Ort – „es sollten ja alle sehen, was mit Deserteuren geschieht“ – und beim Mann, der als Letzter zum Angebundenen ging, „muss es sich um einen Feldkaplan gehandelt haben.“ Nachdem man dem Verurteilten die Augen verbunden hatte, erfolgte die Hinrichtung. Markus Dapunt sackte zusammen und war auf der Stelle tot. Auf den Mann geschossen haben laut Sepp „sechs oder acht Scharfschützen, und das aus einer Entfernung von rund 150 Metern.“ 

Bildstöckl als Erinnerung

Seit dem Herbst 2021 erinnert am „Kiaweg“, nicht unweit der Stelle der Exekution, ein Bildstöckl an Markus Dapunt, das Heinrich Lechthaler errichtet hatte. „Jetzt ist die Zeit reif, Markus Dapunt ein gebührendes Denkmal zu setzen“, hatte er bei der Segnung gesagt (siehe der Vinschger Nr. 31-32/2021). Auch aus dem Gadertal waren Angehörige und Bekannte von Markus Dapunt zur Segnung nach Kortsch gekommen. Markus Dapunt hätte am 10. Juli 1944 seinen Schwur auf den Führer ablegen sollen. Den Antrag auf Gnadengesuch habe er mit den Worten „Ich brauche von euch keine Gnade“ abgelehnt. Am Bildstöckl ist u.a. zu lesen, dass Markus Dapunt erschossen wurde, „weil er für einen Diktator, der den Untergang unserer Heimat beschlossen hat, nicht in den Krieg ziehen wollte.“

„Fendt Dieselross 24“

Nicht nur von prägenden Ereignissen während des Faschismus und der Kriegsjahre weiß Sepp einiges zu erzählen, sondern noch von vielen weiteren Dingen, Begebenheiten und Entwicklungen, wie etwa von der Umstellung von der einstigen Viehwirtschaft auf den Obstbau. Zwei Jahre nach dem Kriegsende, im Jahr 1947, wurde in der damaligen Schmiederei von Franz Gemassmer die Braunviehzuchtgenossenschaft Kortsch gegründet. „Mein Vater und ich brachten zwei Kühe hinunter ins Unterdorf, die angenommen und mit der Genossenschaftsnummer 70 gebrannt wurden.“ Der erste Traktor am Hof war ein „Fendt Dieselross 24“, der im Februar 1957 angekauft wurde. Er leistete damals wertvolle Dienste bei der Heuernte. Ladewägen gab es damals noch keine. Auch an die Zeit, als es nur wenige Apfelwiesen in Kortsch gab, erinnert sich Sepp gut. Der Obstbau habe sich gut entwickelt und vielen Familien ein besseres Einkommen beschert. 1963 hat Josef Telser die Kortscherin Luisa geheiratet. Der Ehe entsprossen zwei Mädchen und zwei Buben. „Angst vor der Arbeit hatte ich nie“, resümiert Sepp. Er habe den Hof mit rund 5 Hektar übernommen, „heute sind es ca. 10.“ Dankbar ist er dafür, dass er rundum gesund ist: „Mir fahlt nix“. Er brauche weder Medikamente, noch einen Arzt. Als er im Herbst 2024 erfolgreich den Führerschein verlängerte – Reaktionstest in Bozen inklusive – musste er zunächst in Erfahrung bringen, wer überhaupt sein Hausarzt ist. Ein weiteres Kapitel seiner Lebensgeschichte, das Sepp mit besonders lebendigen Augen erzählt, ist der 18-monatige Militärdienst, den er in den Jahren 1955 und 1956 absolvierte. Er hat sich speziell im Umgang mit der Bazooka, einer raketenangetriebenen Infanteriewaffe, bewährt. Für diese und andere Geschichten bräuchten wir allerdings weitere Zeitungsseiten. 

Josef Laner
Josef Laner

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