Wenn der Tod im Nebenzimmer Wodka trinkt
Publiziert in 38 / 2015 - Erschienen am 28. Oktober 2015
Geschichten, die der Friedhof geschrieben hat. „Der Grabredner kennt keine guten oder schlechten Menschen.“
Naturns/Wien - „SORELLA MORTE: Über den Tod und das gute Leben – Betrachtungen eines Grabredners“ nennt sich das neue Buch, das der gebürtige Naturnser Hannes Benedetto Pircher geschrieben hat. Das 240 Seiten umfassende Buch ist kürzlich in der Edition Splitter in Wien erschienen (ISBN 978-3-901190-80-3). In „SORELLA MORTE“ geht der Grabredner und Schauspieler kinderschweren Fragen nach, wie zum Beispiel: Wonach fragt, wer nach „dem guten Leben“ fragt? Im Buch findet der Leser Betrachtungen sowie Geschichten und Satiren, die der Friedhof geschrieben hat.
der Vinschger: „De mortuis nihil nisi bene“ sagten die Römer. Auf Deutsch: „Über Tote nichts sagen, es sei denn Gutes.“ Herr Pircher, haben Sie in Ihren über 4.000 Grabreden, die Sie bisher gehalten haben, nie etwas Schlechtes über die Toten gesagt?
Hannes Benedetto Pircher: Nein, natürlich nicht. Allein deshalb, weil der Tote selber nicht mehr mitreden kann. In einer Grabrede darf nichts zur Sprache kommen, was dem Toten Anlass geben könnte, mitreden oder sich verteidigen zu wollen usw. Hier geht es schlicht um eine „Fairness“, an die wir uns auch im Umgang mit den Lebenden halten sollten. Aber es gibt noch einen tieferen Grund für die Normativität dieses Prinzips: „Bene“ ist Adverb. Es muss also lauten: Über die Toten nichts (sagen), wenn nicht auf gute, wohlwollende Weise! In diesem normativen Prinzip, das der Grabredner verkörpert, spiegelt sich die gleiche Würde aller Menschen wider. Diese gleiche Würde aller Menschen wird gerade durch den großen Gleichmacher Tod manifest.
Was heißt das konkret?
Ich hatte einmal einen Mörder zu begraben. Aus einem Mörder mache ich natürlich nicht einen Nicht-Mörder. Aber das, was „Mörder“ an diesem Menschen war, interessiert den Grabredner gar nicht, sondern allein die Würde, die diesem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommt. Zu dieser unantastbaren Würde führt mich allein die Mutter des Verstorbenen. Denn sie trauert ja um ihren Sohn und nicht um einen Mörder. Das ist der springende Punkt! Der Grabredner kennt keine guten oder schlechten Menschen, weder unter den Lebenden noch unter den Toten. Er kennt nur das Gute oder Schlechte, in dem Menschen drin- oder feststecken. Ich bewerte Menschen nicht, sondern versuche, Menschen zu verstehen, zu verstehen, warum sie so denken, wie sie denken, warum sie das getan haben, was sie getan haben usw. Meine wichtigste Aufgabe als Grabredner ist es, den Menschen zuzuhören. Genau und unaufdringlich.
Beziehen Sie sich mit dem Buchtitel „SORELLA MORTE“ auf den Sonnengesang von Franz von Assisi?
Ja. „Laudato si’, mi’ Signore, per sora nostra morte corporale” heißt es im Cantico delle creature des hl. Franz. „Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod.“ Den Tod, den wir alle zu sterben haben, fürchtet der Aussteiger aus Assisi nicht. Er fürchtet nur „la morte secunda“, den „zweiten Tod“, den nichtzeitlichen Tod, den der Seele. Diesem christlichen Erbe der Lebens- und Todesdeutung widme ich in meinem Buch zwei, drei Betrachtungen. Ein Plädoyer dafür, sich über die eigene Sterblichkeit munter hinauszuwerfen. Das Glück, das sich uns dabei zuspielen kann, besteht darin, uns selber nicht immer so furchtbar ernst nehmen zu müssen. Glück ist versöhnte Endlichkeit.
„Leben lernen heißt sterben lernen“, lautet eine alte Erkenntnis. Was heißt „sterben lernen“?
Anstatt an der Todesschweinerei mit religiösem Eifer festzuhalten, öffne ich mich unverdrossen der Möglichkeit, mit dem eigenen Tod umzugehen, wenn schon nicht wie mit einer Schwester oder dem Lehrmeister des Lebens (Seneca), so doch wie mit einem ungebetenen Gast, der zwar mit kaum verhohlener Lust zur falschen Zeit kommt, aber trotzdem unsere höfliche Aufmerksamkeit verdient: „Zwar habe ich jetzt noch anderes zu tun, aber mach es dir schon einmal im Wohnzimmer bequem! Ich bin gleich bei dir! Hier, Whiskey, hier, Wodka, bediene dich!“ Mit anderen Worten: Sterben lernen heißt akzeptieren lernen, dass mein Leben in jedem Augenblick von meinem Tod umfangen ist.
Nur durch ein solches Lernen wird die „Kunst zu sterben“ zur „Kunst zu leben“?
Ja. Der vergnügt wodkatrinkende Gast im Nebenzimmer, mein Tod, lässt in mir das Gespür wachsen für die vielen Weisen, in der sich mir Glück als Dankbarkeit zuspielen will. Glück und Dankbarkeit werden einzig aus Erfahrungen und Wahrnehmungen geboren, die voraussetzen, dass ich um meine Vergänglichkeit weiß: Dankbarkeit, weil ich weiß, dass der wunderbare Schweinsbraten, den mir meine Frau gekocht hat, alles andere als selbstverständlich ist. Dankbarkeit, weil ich weiß, dass mein Leben auf dieser Welt genauso wenig ein Recht ist, wie ich auf den Schweinsbraten einen Anspruch habe, von dem nur mein Tod mir auszurufen ermöglicht: „Das ist der beste Schweinsbraten, den ich je gegessen habe!“ Ein solcher Satz hätte gar keinen Sinn, wenn es meinen Tod nicht gäbe.
Die Leser Ihres Buchs dürfen sich Betrachtungen und Geschichten erwarten, „die der Friedhof geschrieben hat“. Sind das nicht zwangsläufig traurige und todernste Geschichten?
Ganz im Gegenteil! Auf dem Friedhof geht es immer ums pure Leben in allen seinen Facetten und ums ganze Menschsein. Der Tod eines Menschen führt zu einer Ausnahmesituation für die, die Abschied nehmen müssen. Nicht immer stellt diese Ausnahmesituation eine Trauersituation dar. Denn Trauer ist Ausdruck von Liebesfähigkeit, Ausdruck dankbarer, liebender Beziehungen zum Toten. Die Geschichten, die der Friedhof schreibt, sind Geschichten, in denen die großen Lebensfragen auftauchen. Und in etlichen dieser Geschichten steckt eine ordentliche Portion existentieller Komik. Wie bei den Geschichten Tschechows. Einige Titel der einzelnen Glossen und Geschichten in meinem Buch sprechen für sich: „Striptease zur letzten Ehre“; „Das falsche Grab“; „Explosive Tote und der Witz des Fegefeuers“; „Von Auferstehung und Himmelfahrt konfessionsfreier Toter“; „Geben Sie doch zu, dass Sie eine Hure sind!“; „Conchita Wurst – oder: Über das Haben und das Sein“; „Wenn Metaphern betrunken sind“; „Funeral Correctness“; „Wer seinen Taxifahrer nicht ehrt, ist einen eigenen Tod nicht wert!“; „Von der ökologischen Unsterblichkeit“; „Gesundheit, dir leb ich! Gesundheit, dir sterb ich!“; „Wenn Atheisten das Paternoster wünschen“ usw.
Sie schreiben in Ihrem Vorwort: „Der Tod hat auf dem Friedhof nichts zu suchen.“ Wie ist das zu verstehen?
Über den Tod nachzudenken will mir gar nicht gelingen, ohne über mein Leben nachzudenken. Mit dem Tod (der anderen) Bekanntschaft zu machen heißt mit dem Leben Bekanntschaft zu machen. Der Tod zeigt sich den Menschen vor allem als Spiegel, in dem sie sich als „Gott und die Welt“ betrachten. Der Friedhof erzählt Geschichten vom Leben, wie es anklopft, wenn das eigene Leben auf existentielle Weise fraglich und im Horizont solcher Fraglichkeit „das gute Leben“ zur Frage wird.
Worin besteht für Sie „das gute Leben“?
Ein gutes, ein gelungenes Leben ist eines, in dem man in tiefen persönlichen Beziehungen lebt. Unser Leben „glückt“, wenn wir erfahren dürfen, geliebt zu werden, und wenn wir fähig sind, jemand anderen zu lieben. Und, zweitens, sind wir dann mit unserem Leben zufrieden, wenn wir etwas tun können, was unseren Eignungen und Neigungen entspricht, und etwas, was für andere Menschen wichtig ist und in deren Leben zählt. Der amerikanische Schriftsteller Richard Ford spricht vom Glück aus der „Fähigkeit, sich um jemand anderen zu sorgen“.
Viele Menschen interessiert, wie eine Grabrede entsteht. Wie entstehen solche Reden bei Ihnen?
Ich höre Angehörigen aufmerksam zu, um zu erhorchen, was ihnen wichtig ist. Ich habe Bauarbeiter und Philharmoniker begraben, Hofräte und Zuhälter, Politiker und Burgschauspieler, Mörder und Ermordete, Kinder und Hundertjährige. Entsprechend individuell schauen die Reden und Trauerfeiern aus. Wenn ich einen Bruder der „Hells Angels“ begrabe, steigt eine ganz andere „Party“, als wenn ich einen Hofrat oder Politiker begrabe. An Gräbern wird „Nabucco“ gesungen, Frank Sinatra oder Amy Winehouse gespielt. Es wird der Radetzky-Marsch geblasen oder New Orleans Funeral Jazz. Es wird Whiskey getrunken, ein Picknick gemacht, getanzt oder geschwiegen. Es werden Gebete, Tauben oder Luftballons in den Himmel geschickt und vieles andere mehr.
Die Wiener sind bekannt für ihren schwarzen Humor. Begegnet man auch dem Sterben und dem Tod mit Humor?
Natürlich. Nur mit Humor. Und Humor ist eine Form von Weisheit, die überlebensnotwendig ist. Der Wiener Humor dient dem „Überleben“. In meinem Buch blitzt dieser Humor immer wieder auf.
Herr Pircher, Sie haben nicht nur Schauspiel in Innsbruck und St. Petersburg studiert, sondern auch Philosophie in Bologna und München sowie Theologie in Salzburg und Innsbruck. Von 1994 bis 2001 waren Sie Mitglied des Jesuitenordens. Wie sehr sind Ihnen diese Studien für Ihre Grabreden nützlich?
In einem enormen Ausmaß! Vor allem den Jesuiten verdanke ich unendlich viel. Nicht nur die Formation in intellektueller, sondern auch in menschlich-emotionaler Hinsicht. Meine Berufung zum Jesuitsein lebe ich auch nach meinem Weggehen vom Orden weiter: Dienst am Menschen. Den Seelen helfen, wie Ignatius von Loyola sagen würde. Darin finde ich tiefste Sinnerfüllung in meinem Leben.
Sind wir im Grunde nicht alle ein bisschen Schauspieler, im Leben und auch am Grab?
Natürlich. Wir alle spielen Theater. Aber nicht im negativen Sinn von: „Der spielt nur Theater!“ Unglücklicherweise wird Theaterspielen immer mit „Lüge“, „Verstellung“ und „Unechtheit“ assoziiert. Wir Menschen können aber gar nicht anders, als all unser Sprechen, Handeln und Interagieren zu inszenieren. Wir tun das immer und überall. Im Wirtshaus genauso wie auf dem Friedhof. Theatralität konstituiert Gesellschaft. In genau diesem Sinne wird auch auf dem Friedhof Theater gespielt, sogar in einem außerordentlichen, weil überlebensnotwendigen Ausmaß. „Weinen“ darf nicht einsam bleiben. Es muss wahrgenommen werden. Es muss vergesellschaftet werden.
Darf man fragen, wie viel eine Grabrede kostet?
Die Angehörigen zahlen um die 250 Euro an das jeweilige Bestattungsinstitut. Wir Trauerredner bekommen einen Teil davon. Dabei ist die Vorbereitung einer Trauerfeier und Trauerrede sehr unterschiedlich, was Zeitaufwand und Mühewaltung angeht.
Wäre es nicht angebrachter, am Grab schlicht und einfach zu schweigen?
Natürlich gibt es auch die Situationen, in denen Schweigen angebracht ist. Schweigen heißt dann aber nicht bloß Nichtreden. Schweigen ist dann „das richtige Wort“. Weil Perikles sehr genau wusste, wie schwierig es ist, angesichts unterschiedlicher Erwartungen der zur öffentlichen Trauer Versammelten „das rechte Wort“ zu finden, beginnt mit ihm die Geschichte der laudatio funebris.
Interview: Sepp Laner
Josef Laner