Der „Griaßr“ von Schlanders
Wie Karl Raffeiner den Tinnitus bekämpft
Einige Auszüge aus den vielfältigen Aufzeichnungen von Karl Raffeiner.
Es gibt fast nichts, über das Karl Raffeiner nicht genauestens Buch führt.

„So schlage ich diesem ‚Teufel‘ ein Schnippchen“

Wie es dem „Griaßr“ von Schlanders gelingt, den Tinnitus in Schranken zu halten.

Publiziert in 23 / 2024 - Erschienen am 17. Dezember 2024

Schlanders - „Hoi du Griaßr, iatz griaß i di zerscht“: Es war Gustl Tappeiner aus Schlanders, der seinen Landsmann Karl Raffeiner am 13. März 2024 mit diesen Worten begrüßte. Am Tag zuvor war im der Vinschger ein Artikel über ein außergewöhnliches Hobby des pensionierten Krankenhaus-Portiers erschienen. Karl hatte am 1. November 2022 damit begonnen, täglich aufzuschreiben, wie viele Menschen er pro Tag auf der Straße, in Gasthäusern, bei Spaziergängen und Zusammenkünften grüßte und wie viele davon den Gruß erwiderten bzw. den Kopf nicht hoben und stumm weitergingen. Im Zeitraum von November 2022 bis Oktober 2023 hatte er 27.357 Personen gegrüßt, wobei nur 1.141 den Gruß nicht erwidert haben.

„Du hast die Leute wachgerüttelt“

Als kurze Zeit nach dem Bericht im der Vinschger auch ein Fernsehteam von „ORF Südtirol heute“ nach Schlanders kam und den „Griaßr“ interviewte, wurde Karl Raffeiner rasch weitum bekannt. Auf Facebook wurde das Interview, hochgeladen von Karls Tochter Katja in der Schweiz, in kürzester Zeit über 22.130 Mal angeklickt. Auf Instragam („ORF Südtirol heute“) haben sich über 144.000 Personen die „Geschichte mit dem Grüßen“ angeschaut. Noch mehr gefreut hat sich Karl über die vielen persönlichen Rückmeldungen, über die er – wie kann es anders sein – genau Buch geführt hat. Wie er uns am 6. November verriet, „haben mich seit März 2023 bis heute 1.355 Leute persönlich angesprochen.“ Natürlich hat er auch die Namen aller dieser Menschen aufgeschrieben. Er weiß genau, wer ihn wann und wo angesprochen hat. Im Hallenbad in Latsch zum Beispiel rief ihm eine Frau zu: „Des isch jo dr Griaßr fa Schlondrs“. Die Rückmeldungen waren durchwegs positiv. Man habe ihm sogar bescheinigt, die Leute wachgerüttelt und die Gesellschaft mit einer „guten, ja genialen Bombe“ aufgeweckt zu haben. Auch seitens der Leiterin des MGV Schlanders, Sibylle Pichler, und vieler Mitglieder des Männergesangvereins gab es positive Rückmeldungen für Karl, der übrigens seit 44 Jahren im MGV mitsingt. Aus Vals in der Gemeinde Mühlbach ist ein wertschätzender Brief der Autorin Anna Bacher Graf eingetroffen, dem ein Gedicht beigelegt war, welches sie über das Grüßen verfasst hatte. Bacher Graf gratulierte Karl zur großartigen Idee, über das Grüßen genau Buch zu führen. Ebenso positiv waren Rückmeldungen aus dem Raum Brixen, wo Karls Tochter Anita als Lehrerin arbeitet. Sie hatte das Interview den Kindern gezeigt, worauf viele Eltern mit Dankbarkeit reagierten. 

Die Zahl der Nicht-Grüßer ist gesunken

Auch Karl selbst hat in seinem Umfeld und im Dorf bemerkt, „dass die Leute einander jetzt etwas mehr grüßen und dass die Zahl jener, die nicht zurückgrüßen, abgenommen hat.“ Im Vergleich zu früher erwidern zum Beispiel auch vermehrt Mittel- und Oberschüler, denen er begegnet, seine Grüße. Und es sind wiederum Zahlen, mit denen Karl den positiven und begrüßenswerten Trend untermauert: „Vom 1. November 2023 bis zum 31. Oktober 2024 habe ich 31.636 Personen gegrüßt und nur 858 haben den Gruß nicht erwidert.“ Im Vergleich zum Jahr zuvor hat sich die „Bilanz“ somit gebessert. Unter dem Strich hat Karl in 2 Jahren 59.093 Menschen gegrüßt, wobei nur 1.999 nicht zurückgrüßten.

Das „Hirnkastl“ unterbrechen

Seine „Gruß-Aufzeichnungen“, die penible Buchführung über Wanderungen und Bergtouren, die Niederschrift von Vogelbeobachtungen, das Sammeln von vier- und mehrblättrigen Kleeblättern sowie das schriftliche Festhalten vom jährlichen Herz-Jesu-Feuern und weiteren Ereignissen sind einige der Methoden, mit denen Karl versucht, den „Teufel“ auszutricksen. Der „Teufel“ ist der Tinnitus, gegen den er seit 2010 zu kämpfen hat. Er habe zwar schon vor Jahren versucht, das lästige und belastende „Singen“ in den Ohren und im Kopf mit Tabletten zu bekämpfen, doch zu einer Besserung kam es nicht: „7 Monate lang habe ich teure Pillen geschluckt, aber gebracht hat es mir nichts.“ Erfolgreicher seien die Methoden gewesen, die er für sich selbst entdeckt hat und zu denen auch die täglichen Aufzeichnungen und das regelmäßige Buchführen gehören: „Es geht im Grunde darum, das ‚Hirnkastl’ zu unterbrechen und die volle Konzentration auf etwas Anderes zu lenken.“

Mit der linken Hand essen oder schreiben

Mit Routine-Handlungen, sprich Sachen, die man gewohnheitsmäßig immer macht, gelinge dies nicht: „Es müssen Dinge sein, bei denen die volle Konzentration gefragt ist.“ Bei seinen Aufzeichnungen zum Beispiel konzentriere er sich nicht nur auf die Zahlen und Nummern, sondern auch darauf, möglichst schön zu schreiben. Früher hatte er oft ein Blöckchen und einen Bleistift bei sich, um Dinge rasch vor Ort zu notieren, „mittlerweile versuche ich, alles genau im Kopf zu behalten und es erst am Abend aufzuschreiben.“ Auch das lenkt ab und erfordert viel Konzentration. Wenn sich der „Teufel“ zum Beispiel während der Mahlzeiten bemerkbar macht, versucht er, mit der linken Hand zu essen, obwohl er eigentlich ein Rechtshänder ist, und wenn ihn der Tinnitus bei den Aufzeichnungen „besucht“, schreibt er mit der linken Hand. Was überhaupt nicht funktioniert, ist einfach dasitzen und nichts tun.

Auch Tinnitus-Betroffene melden sich

Am meisten freut sich Karl, wenn er seine Erfahrungen als Tinnitus-Betroffener mit anderen Leidensgenossen austauschen oder ihnen Tipps mitteilen kann. Bisher haben ihn 5 Betroffene angesprochen „und 4 davon haben mich wissen lassen, dass ihnen meine Anregungen geholfen haben.“ Die Familie eines Betroffenen habe sich über Instagram bedankt und mitgeteilt, dass die Anregungen von Karl tatsächlich geholfen haben. Diese Hilfen von Karl kann man als positiven Nebeneffekt des „Aufrüttlers“ bezeichnen, mit dem er die Gesellschaft in Sachen Grußkultur „wachgegrüßt“ hat. Zum Grüßen hat Karl eine denkbar einfache Einstellung: „Du musst die Leute nur anschauen und nicht den Kopf hängen lassen.“ Das Tinnitus-Phänomen, sprich das Pfeifen im Ohr und andere Ohrgeräusche, haben ihren Ursprung im Ohr selbst, nicht in der Umgebung. Es handelt sich um ein Symptom, nicht um eine eigenständige Erkrankung. Das Phänomen ist sehr verbreitet. Auf Wikipedia ist nachzulesen, dass mehr als 25 % der Einwohner der Industrieländer im Laufe ihres Lebens von Tinnitus betroffen sind. In Deutschland nehmen über 15 % der Personen über 65 Jahren ständig und langdauernd Ohrgeräusche wahr.

3.435.610 Höhenmeter

Mit den Aufzeichnungen seiner Bergtouren, Wanderungen und Überschreitungen hat Karl bereits als 17-Jähriger begonnen. Die Bilanz wird Jahr für Jahr ajourniert. Die erklommenen Berge sind je nach Höhenmeter erfasst. Der einzige 4-Tausender in der Gesamtbilanz ist der Piz Bernina. 28 Mal war Karl auf Höhen zwischen 3.500 und 4.000 Metern unterwegs, darunter 17 Mal auf dem Ortler. Die Zahl der Begehungen nimmt bei sinkender Höhen-Kategorie laufend zu. So hat Karl zum Beispiel die Höhe von 3.000 Metern 226 Mal überschritten. Im Tourenbuch sind auch viele Details zu allen Begehungen nachzulesen. Ebenso vermerkt sind die Weggefährten, von denen nicht wenige mittlerweile nicht mehr leben. Bis auf 2023 hochgerechnet hat der Schlanderser auch die seit 1962 bewältigten Höhenunterschiede: Zum Stichtag 31. Dezember 2023 waren es 3.435.610. Karl hofft, im nächsten Jahr die 3,5-Millionen-Marke zu erreichen oder gar zu überschreiten. Am 30. Jänner 2025 wird er 70 plus 10 Jahre alt.

Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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