So rosig, wie es oft dargestellt wird, geht es der Wirtschaft nicht
Publiziert in 12 / 2008 - Erschienen am 2. April 2008
„Die Wirtschaft tritt auf der Stelle“: So haben wir im Oktober 2005 getitelt. Um herauszufinden, wie es um die Wirtschaft im Vinschgau derzeit steht, wo die Probleme liegen und wohin die Entwicklung führen könnte oder sollte, hat „Der Vinschger“ am 27. März Vertreter verschiedener Wirtschaftszweige zu einer Gesprächsrunde eingeladen. Es wurde eine Vielzahl von Anliegen angesprochen. Einig sind sich alle darin, dass es um die Wirtschaft im Vinschgau – und nicht nur im Vinschgau – gar nicht so rosig bestellt ist wie es oft dargestellt wird. Am meisten Kritik gab es für die Steuerlast, die ausufernde Bürokratie und den übermächtigen „Landesapparat“. Aber auch sich selbst klopfte die Wirtschaft an die Brust: „Wir müssen mehr zusammenhalten.“ Nachfolgend die wesentlichsten Auszüge der Stellungnahmen und Diskussionsbeiträge.
Kurt Ziernhöld, SWR-Bezirksobmann und Bezirksobmann der Kaufleute und Dienstleister: Der Handel hat sich etwas stabilisiert und die Euphorie, ins Ausland zum Einkaufen zu fahren, ist zurückgegangen. Es entspricht nicht immer der Wahrheit, dass man in Landeck oder Trient dieselbe Ware billiger einkauft. Die Großverteiler, sprich Einkaufszentren erfüllen nicht den Zweck, billige Ware abzusetzen, sondern sie geben den Kleinbetrieben den Todesstoß! Es ist Augenauswischerei, dass dadurch die Waren billiger würden. Der Tourismus sorgt dafür, dass der Kaufkraftzufluss dennoch höher ist als der Kaufkraftabfluss.
Erhard Joos, LVH-Bezirksobmann Obervinschgau: Die Auftragslage in der Bauwirtschaft und im Baugewerbe ist eher schlecht; öffentliche Aufträge sind erschöpft; aufgrund der niedrigen Löhne fehlt die Kaufkraft. Viele Betriebe stehen auf der Kippe. Im Obervinschgau haben einige Betriebe dicht gemacht, an die 40 Arbeiter sind davon betroffen. Die Konkurrenz aus dem Ausland ist nicht mehr so arg; jedoch fehlen die großen Aufträge im Tal.
Hans Moriggl, Unternehmerverband-Bezirksvertreter des Vinschgaus: Es herrscht eine allgemein schwierige Auftragslage, besonders in der Bauwirtschaft. Zum einen verdienen die Arbeiter zu wenig, zum anderen sind die Lohnkosten zu hoch. Wir sehen ein, dass die Arbeiter zu wenig verdienen, aber hier ist die Politik gefordert, die bessere Rahmenbedingungen für beide Seiten schaffen muss. In Bozen entscheiden fünf Personen, was in Südtirol zu geschehen hat. Den Statistiken glaube ich schon lange nicht mehr. Wir sind dabei, die Mittel- bzw. Kleinbetriebe fertig zu machen. Ein Betrieb, der nicht auch außerhalb des Vinschgaus arbeitet, ist verloren. Wir können uns überall sehen lassen, wir arbeiten sehr gut. Was uns fehlt, ist das Marketing.
Wir hätten im Vinschgau viel Potential; das Land könnte beispielsweise einen Anreiz schaffen, dass die alte Bausubstanz in den Dorfkernen saniert wird.
Andrea Orrú, Wirtschaftsberater: Südtirol wird immer als reich dargestellt, wir müssen das aber teuer bezahlen. Im Vinschgau gibt es viele Kleinbetriebe, die können sich teilweise keine Angestellten mehr leisten, denn sie haben einen gewaltigen Kostenaufwand für die Angestellten. Das Handwerk in Südtirol stellt qualitativ hochwertige Produkte her. Allerdings sind die Betriebe im kleinen Rahmen geblieben, und der kleine Betrieb hat wenig Chancen. Die geringe Arbeitslosigkeit bringt auch Probleme, denn es fehlt an spezialisierten Arbeitskräften. Die fehlende Professionalität ist besonders im Gastgewerbe spürbar.
Karl Pfitscher, HGV-Ortsobmann von Schlanders, Präsident des Tourismusvereins Schlanders-Laas: Laut Statistik geht es dem Tourismus gut, doch die kann man drehen, wie man sie braucht. Es geht dem Tourismus nicht besonders gut. Häuser mit drei Sternen aufwärts arbeiten gut, müssen allerdings ständig investieren. Privatzimmervermieter und Garnis haben einen besonders schweren Stand. Auch im Gastgewerbe ist der Kaufkraftschwund zu verspüren. Darunter leiden auch die Restaurants und Bars. Ein Pächter einer Bar kann sich das nicht mehr leisten. Das Ambiente der Fußgängerzone von Schlanders ist untertags einmalig, nach Geschäftsschluss verwandelt sich das Dorfzentrum jedoch in eine Geisterstadt. Das Feierabendbier mit Freunden ist ausgeblieben. In Österreich ist das Fachpersonal viel spezialisierter. Da können wir von den Ost- und Nordtiroler Kollegen einiges lernen. Wir haben viel Nachholbedarf, auch bei den Sprachen. Die Schulabgänger unserer Hotelfachschulen gehen schon nach ein paar Jahren in die öffentliche Verwaltung. Kaum jemand mag mehr am Wochenende oder am Abend arbeiten.
Kurt Zienhöld: Viele können zu wenig Italienisch. Ich habe bereits vorgeschlagen, einen „Italienischtag“ in der Woche einzuführen, an dem landesweit nur Italienisch gesprochen wird. Die Idee ist sehr umstritten.
Raffael Egger, LVH-Bezirksobmann Unervinschgau: Im Ausland ist die Arbeitskraft nicht so teuer, deshalb müssen wir mit Bietergemeinschaften verhindern, dass wir von der ausländischen Konkurrenz unterboten werden. Dazu brauchen wir ausgebildete Leute, deshalb befürworte ich die Einführung der Berufsmatura sehr. Was der Vinschgau dringend braucht, ist mehr Zusammenhalt auf allen Ebenen.
Hans Moriggl: Früher konnte man einen Bankkredit erhöhen, wenn er nicht reichte. Heute vergeben Banken keine zusätzlichen Kredite. Wenn das Geld nicht reicht, sind es die Handwerker, die auf das Geld ewig warten. Sie spielen Bank für ihre Auftraggeber.
Andrea Orrú: Banken sind inzwischen zu „Partnerbetrieben“ für die Betriebe geworden, die sich verschuldet haben. Wir haben einen zu großen Bürokratismus aufgebaut. Das Land hat zuviel Macht über seinen Riesenhaushalt; es müsste unbedingt den Gemeinden mehr Zuständigkeiten abtreten. Südtirol ruht auf einem starken Mittelstand, dem allerdings die Füße abgeschnitten werden. Es muss reagiert werden, man darf sich nicht ausruhen.
Raffael Egger: Im Untervinschgau haben wir ca. 550 Handwerksbetriebe, die insgesamt 1.200 Menschen beschäftigen. Diese Betriebe zahlen an die 30 Millionen Euro an Steuern. Davon fallen über 17 Mio. an Mehrwertsteuer, über 10 Mio. an IRPEF und 1,5 Mio. an IRAP an. Dazu kommen die Lohnnebenkosten, die ebenfalls zu hoch sind.
Erhard Joos: Im Obervinschgau gibt es 543 Handwerksbetriebe, in denen knapp 2.000 Menschen arbeiten. Insgesamt zahlen diese Betriebe 27,7 Mio. an Steuern, davon über 16 Mio. Mehrwertsteuer, an die 10 Mio. IRPEF und 1,4 Mio. IRAP.
Andreas Tappeiner, Bezirksobmann des Bauernbundes: Auch in der Landwirtschaft gibt es Unterschiede in der Lebensfähigkeit. Während die intensive Talsohle noch relativ gut da steht, kann die Berglandwirtschaft vielfach nur mehr im Nebenerwerb geführt werden. Zu- und Nebenerwerb sind unerlässlich geworden. Die Berglandwirtschaft liefert in erster Linie nicht nur ihre Produkte, sondern sie leistet einen besonderen Dienst als Kulturerhalter und Landschaftspfleger. Vom Tourismus profitiert auch die Berglandwirtschaft, wichtig ist die Imagewerbung für die landwirtschaftlichen Produkte und deren Veredelung. Die Zusammenarbeit mit der Gastronomie könnte allerdings besser sein. Der HGV hat sich kürzlich sehr kritisch geäußert zum neuen „Urlaub auf dem Bauernhof“-Gesetz, das eine Eigenproduktion von 30 Prozent sowie Produkte von anderen Höfen oder Genossenschaften bis zu 50 Prozent erlaubt. Nur 20 Prozent der Produkte dürfen frei eingekauft werden. Da drängt sich mir die Frage auf: Wo liegt der Einsatz von heimischen Produkten von Seiten der Tourismusgastronomie?
Karl Pfitscher: Die Buschenschänke haben in letzter Zeit wie Gasthäuser gearbeitet, aber nicht deren Auflagen einhalten müssen.
Andreas Tappeiner: Wenn ein klein strukturierter landwirtschaftlicher Betrieb im Vinschgau überleben will, muss er intensive Nutzung betreiben. Das geht nur durch eine Umstellung von Viehwirtschaft auf Beerenanbau oder Obstbau.
Die Fusion der Genossenschaften ist mit lobenswerter Weitsicht geschehen, wenngleich sie von den Genossenschaften eine Rücknahme der Kirchturmpolitik verlangt hat.
Andrea Orrú: Im Konzeptdenken steckt sehr viel Potential.
Kurt Ziernhöld: Es gibt auch im Handel Unterschiede zwischen Oberem und Unterem Vinschgau. Das größte Problem aller ist jedoch die Bürokratie. Die Einführung einer Steuerabfindung für Kleinbetriebe bis zu 30.000 Euro Umsatz ist ein guter Ansatz, sollte aber auf 300.000 Euro erhöht werden.
Steuern und Verordnungen sind für unsere Betriebe zu hoch! Außerdem braucht es eine flüssige Straße, denn wir haben immer mehr Hindernisse auf der Straße. Alle Ampeln, die derzeit für ständigen Stau sorgen, müssen weg und anstelle von Zebrastreifen sollten Über- oder Unterführungen gebaut werden.
Andreas Tappeiner: Ein stärkerer Ausbau der Vinschger Straße ermöglicht auch den Zulauf von ausländischen Firmen in den Vinschgau. Wir fordern verbesserte Wohnqualität und kleine Umfahrungen bei Ortschaften, aber keineswegs den Ausbau der Straße. Zum Thema Landwirtschaft bzw. Genossenschaften und ICI: es hätte die Landwirtschaft nicht umgebracht und es wäre richtig gewesen, wenn auch die Genossenschaften ihren ICI-Beitrag geleistet hätten. Der Berufsmatura gegenüber bin auch ich positiv eingestellt.
Die Energie darf nicht zum Landesmonopol werden.
Karl Pfitscher: Südtirol lebt in einer besonderen politischen Situation. Ich fände es richtig, dass die Arbeitnehmer aus der SVP herausgingen und als sozialdemokratische Partei eine starke Opposition bilden; aber wir sind ja gezwungen zusammenzuhalten.
Ingeborg Rechenmacher
„Es geht uns nicht gut, aber wir wollen nicht schwarz malen“
Der erste Halbsatz wurde sinngemäß einmal mehr, einmal weniger von allen Beteiligten am Wirtschaftsgespräch gebraucht, den zweiten formulierte der Unternehmer Hans Moriggl gegen Ende des Gesprächs. Aufgefallen ist, dass Andreas Tappeiner, Vertreter der Landwirtschaft und als Bürgermeister auch öffentlicher Verwalter, als einziger von Vorwürfen Richtung Landesregierung absah. Vor dem Hintergrund eines Wirtschaftsgesprächs im Oktober 2005 und dem daraus entstandenen Beitrag mit dem Titel „Die Wirtschaft tritt auf der Stelle“, wurde zweieinhalb Jahre später, am 27. März 2008, eine neuerliche Standortbestimmung vorgenommen, der zufolge der „Vinschger“ titeln müsste: Die Wirtschaft leidet und sie steht mit dem Rücken zur Wand.
Trotz des Versuchs eines Teilnehmers, doch noch etwas Hoffnung keimen zu lassen, war mein Eindruck: Der Vinschger Wirtschaft reicht das Wasser bis zum Hals. Was soll man sonst denken, wenn ein Wirtschaftsberater bestätigen muss, dass viele Betriebe verschuldet sind, wenn immer mehr Menschen mit immer weniger Geld auskommen müssen, wenn es immer weniger Bauaufträge gibt, wenn Handwerker Banken spielen müssen für nicht mehr liquide Bauherren, wenn sich kleine Betriebe keinen Angestellten mehr leisten, weil sie die Sozialabgaben nicht bezahlen können, wenn viel zu wenig ausgebildetes Personal zur Verfügung steht, wenn die Wirtschaft im Bezirk nicht zusammenarbeitet, wenn im Energiebereich das Land den Gemeinden die Luft abwürgt, wenn unsere Landespolitiker nicht imstande oder nicht willens sind, die ausufernde Bürokratie zu stoppen, wenn die IRAP-Senkung um einen halben Prozent-Punkt mit fünf Jahren Beitragsverzicht vergolten wird, wenn immer mehr Zimmervermieter schließen und Restaurantbetriebe darauf hin auch zusperren müssen, wenn im öffentlichen Dienst viel leichter viel mehr verdient werden kann, als in der freien Wirtschaft, wenn Straßen voller Hindernisse sind und Standortnachteile entstehen, wenn eine einzige Partei allmächtig wird, weil wir eine Minderheit sind, wenn wir mit diesem Staat keinen Staat mehr machen können und wenn das allmächtige Land die bösen Schaltzentralen in Rom und Brüssel vorschieben kann.
Günther Schöpf
Aus dem italienischen Steuer-System (zur Verfügung gestellt von ReziaData, Latsch)
Es gibt zurzeit zwei direkte Steuern, die alle Betriebe zu zahlen haben. Die frühere IRPEG (Imposta sul reddito delle persone giuridiche, jetzt IRES: Imposta sul reddito enti e societá) mit dem einheitlichen Steuersatz von 37 Prozent basiert auf dem erwirtschafteten Gewinn. Der Haken: sie muss zu 98 Prozent vorausbezahlt werden; bei Gewinnsteigerung erhöht sich im darauf folgenden Jahr auch die Vorauszahlung. Stein des Anstoßes und nicht von Rom abhängig sind die 4,25 Prozent IRAP (Imposta regionale sulle attivitá produttive). Diese Wertschöpfungssteuer betrifft die Produktion, den Güteraustausch und den Dienstleistungsbereich. Es müssen Steuern auf Sozialabgaben und sogar auf Passivzinsen gezahlt werden. Die IRAP ersetzt allerdings die früheren 16 Prozent Gesundheitsabgaben. (s)
Josef Laner