Unter der Glocke der UNESCO - Flucht nach vorn im Münstertal: “Biosfera” als Chance für Schweizer Nachbarn

Serengeti im Münstertal

Publiziert in 3 / 2005 - Erschienen am 17. Februar 2005
[F] Seit geraumer Zeit läuft im schweizerischen Münstertal, einem Tal von 198,65 km2, mit den Gemeinden Fuldera, Lü, Müstair, Sta. Maria, Tschierv und Valchava, ein Mammutprojekt zur weltweiten Anerkennung eines UNESCO – Biosphärenparks. Kann sich das Münstertal bewähren, bringt das Vorteile für das Tal oder ist es ein Verkauf des Lebensraumes und der Bevölkerung? von Brigitte Thoma [/F] Die Auszeichnung “Biosphärenreservat” (romanisch: Biosfera) wird von der UNESCO an großflächige, represäntative Natur- und Kulturlandschaften verliehen. Die UNESCO ist eine Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur der Vereinten Nationen (UNO). Biosfera soll ein gelebtes Modell dafür sein, wie in einem bestimmten Landschaftstyp Menschen wirtschaften und leben können. Bio bedeutet Leben, Sphäre ist gleich Raum. Reservat ist gleich bewahren. Es geht um die Entwicklung und Neuerungen der Lebensgrundlagen, ohne Zerstörung derselben für nachfolgende Generationen. Im Gegensatz zu einem Nationalpark, wo Natur- und Artenschutz im Vordergrund stehen, ist eine Biosfera eine Landschaft, in der Menschen mit der Natur zusammenleben sollen. Sie besteht aus drei Zonen: 1. Kernzone, als absolute Schutzzone, im Val Müstair ist dies der heutige Nationalpark ; 2. Pflegezone, das sind Gebiete, welche nur extensiv bewirtschaftet werden dürfen, wie z.B. das Val Mora; 3. eine Zone, in der gewirtschaftet werden kann - die Entwicklungszone. Über 400 Biosphärenreservate sind in rund 100 Ländern der Welt entstanden. Angesichts der globalen Umweltprobleme und der Folgen menschlicher Eingriffe in den Naturhaushalt hat die UNESCO 1970 das Programm «Der Mensch und die Biosphäre« gegründet. Berühmte Beispiele für Biosphärenparks sind die Rocky Mountains, die Galapagos Inseln, die Niagara Fälle und die Serengeti. Um ein von der UNESCO anerkanntes Reservat zu werden, müssen gewisse Kriterien und Funktionen erfüllt werden, welche die UNESCO in regelmäßigen Abschnitten überprüft. Als typische Randregion kämpft das Val Müstair gegen die Entvölkerung des Tales und die damit zusammenhängenden negativen Begleiterscheinungen. Dieser Entwicklung kann, laut Projektkoordinatorin Gabriella Binkert, mit dem Projekt Biosfera Val Müstair – Parc Naziunal entgegen gesteuert werden. [F] Entvölkerung entgegenwirken [/F] Getragen wird das Projekt von der Corporaziun Regiunala Val Müstair mit dem Großrat Georg Fallet an der Spitze. Als Projektleiter zeichnet Urs Darnunzer aus Davos verantwortlich und der Präsident des Projektes ist Mario Gross Bass. Durch sinnvolles Zusammenwirken der Bereiche Wirtschaft, Gesellschaft, Ökologie, Kultur und Natur soll der wertvolle und starke Lebensraum erhalten bleiben, damit auch zukünftigen Generationen genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Die einheimische Bevölkerung und die Touristen sollen in einem guten Umfeld wohnen und leben können, und die intakte Natur sowie die landschaftliche Vielfalt sollen erhalten bleiben. Dieses langfristige Projekt unterstützt Bemühungen, welche das Münstertal weiterhin lebensfähig erhalten sollen. Jeder Einwohner kann selbst entscheiden, inwieweit, oder ob er sich überhaupt am Projekt beteiligen will (z.B. mit Teilprojekten). Es ist nicht zwingend, dass jeder Betrieb, Bauer oder Hotelier ein Partner der Biosfera wird. Aber Beispiele aus anderen Biosphären-Regionen, z.B. dem Entlebuch oder dem Großwalsertal, beweisen, dass gute Initiativen eine wirtschaftliche Besserstellung gebracht haben. Die Basis der Biosfera beruht auf der Freiwilligkeit jedes Einzelnen, der vom Gesamtprojekt nur profitieren kann. [F] Skeptiker [/F] Hört man sich unter den Bewohnern um, so gibt es Fürsprecher für dieses Projekt, aber auch Skeptiker wie Mario Gross Vollenweider und Fredy Bass aus Tschierv. Beide sind grundsätzlich für das Projekt Biosfera, man müsse aber darauf achten, dass alles Hand und Fuß hat. Sie bemängeln, dass im Gremium zur Erarbeitung des Leitbildes kein Ökonom als Wirtschaftsvertreter miteingebunden wurde. Sie zweifeln daran, dass mit Biosfera neue Arbeitsplätze geschaffen und so der Entvölkerung des Tales entgegengesteuert werden könnte. Außerdem sollte die Sprache der Leitbilder präzisiert und keine "Gummiparagraphen" genehmigt werden. Der Leitsatz des Projektes "Ehrfurcht vor dem Leben" von Albert Schweizer sei nicht vereinbar mit der Extragjagd und dem Leerfischen des Rambaches, so die Meinung der beiden Münstertaler. Derzeit sieht es mit der Wirtschaft im Tal nicht so rosig aus. Ein großer Teil des Einkommens stammte in den letzten Jahrzehnten aus Bundes- und Kantongeldern. Diese flossen in die Land- und Waldwirtschaft, das Erziehungs- und Spitalwesen. Mit dem heurigen Schuljahr wurden die Schulen zusammengelegt und somit Lehrpersonal entlassen. Im Spital und in der Forstwirtschaft wurden Angestellte entlassen. Eine große Baufirma musste ebenso viele Arbeitsplätze streichen. Darum kam das Angebot des Präsidenten der Nationalparkkommission Andrea Hämmerle und dem ehemaligen Gemeindepräsidenten aus Valchava, Chasper Melcher, wie gerufen, aus dem Val Müstair einen UNESCO-Biosphärenpark zu machen. Im Tourismus gibt es vor allem in den Sommermonaten gute Nächtigungszahlen, im Winter ist ein Hotelbetrieb aber selten rentabel. Das Skigebiet Minschuns als wichtigster Motor des Wintertourismus soll gefördert und ausgebaut werden. Die Natur soll dem Gast näher gebracht werden. Der Urlaub soll zum Erlebnis werden. Die Kulturgüter sind wichtiger Bestandteil des touristischen Angebots. Das Kloster St. Johann in Müstair wurde von der UNESCO bereits zum Weltkulturgut erklärt. Die unter RegioPlus und INTERREG laufenden Tourismusprojekte als grenzüberschreitende Aktivitäten sollen nachhaltig genutzt werden. Durch den Ausbau des Eselweges, der vom Kloster Müstair zum Kloster Marienberg führen soll, ist ein grenzüberschreitendes Projekt schon im Gange. Auch für den Tourismus im Vinschgau ist dies eine große Bereicherung. Die Nähe zum Biosphärenreservat könnte von Vorteil sein. Durch die Zugehörigkeit zu den weltweit vorhandenen Biosphären-Regionen und mit dem Label der UNESCO könnte der Bekanntheitsgrad des Tales erhöht werden und dadurch mehr Touristen angelockt werden. [F] Studie [/F] Zurzeit wird an einer Machbarkeitsstudie (1. Etappe) gearbeitet. Gleichzeitig haben die Projektanten begonnen das Konzept zu erstellen, darin sind auch die Teilprojekte, d.h. Projekte, welche in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung entstehen, enthalten. Im Rahmen dieser Unterlagen und Studien wird das Biosfera-Projekt untersucht. Es soll den Gemeinden, der Region, dem Bund und dem Kanton Gelegenheit geben, die Möglichkeiten zur Errichtung eines Parks in der Region zu beurteilen. Die Studie bildet die Grundlage für ein Finanzierungsgesuch bei den Körperschaften und muss den vom Bund und Kanton festgelegten Grundsätzen entsprechen. Anfang 2006 möchten die Initiatoren das Ansuchen um Anerkennung eines Biosphärenparks bei der UNESCO in Paris abgeben.
Brigitte Thoma
Vinschger Sonderausgabe

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