Gut leben auf dem Land
Neues Festival „hier und da“ setzt neue Akzente
Obervinschgau - Wie kann es gelingen, einen ländlichen Raum, wie es der Obervinschgau ist, nachhaltig zu entwickeln und Potentiale zu nutzen, ohne dass dabei die Landschaft unter die Räder kommt? Inwieweit ist die Zivilgesellschaft im Stande, die Zukunft des Obervinschgaus ein Stück weit selbst in die Hand zu nehmen? Was hat sich diesbezüglich bereits getan und was ist noch möglich? Diese und weitere Fragen standen im Mittelpunkt der ersten Auflage des Festivals „hier da – Gut leben im ländlichen Raum“, das vom 23. bis 25. März in Mals und Umgebung stattgefunden hat. „Es geht nicht darum, uns als peripheres Gebiet abzuschotten, sondern wir möchten unsere Zukunft zumindest teilweise selbst gestalten und dies nicht anderen überlassen“, hatte Armin Bernhard, der Vorsitzende der Bürgergenossenschaft Obervinschgau (BGO), am Eröffnungstag im Kulturhaus in Mals vorsaugeschickt. Inhaltlich gesehen drehte es sich beim dreitätigen Stelldichein, zu dem sich insgesamt mehrere hundert Personen, darunter auch zahlreiche Regionalentwickler aus Österreich und Deutschland eingefunden hatten, genau um das, was sich die Bürgergenossenschaft „da“ als Ziel auf die Fahne geschrieben hat: eine ökologisch und ökonomisch nachhaltige Entwicklung des Obervinschgaus. Es geht somit um viel, viel mehr als „nur“ um die sogenannte Pestizid-Debatte.
Auf dem Weg zur Bioregion
Das Eröffnungsreferat hielt Michael Groier aus Wien, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundesanstalt für Bergbauernfragen. Er sprach über Konzepte, Modelle und Umsetzungsmöglichkeiten von Bioregionen. „Bioregionen bieten die Chance, über die Weiterentwicklung des Biolandbaues hinaus die Regionalentwicklung zu fördern“, gab sich Groier überzeugt. „Von der Bioregion profitiert die gesamte Region.“ Das Um und Auf erfolgreicher Bioregionen seien eine starke, engagierte Kerngruppe von Biobäuerinnen und Biobauern, eine intensive Kommunikation nach innen und außen sowie eine gute Vernetzung mit anderen regionalen Akteuren. Auch eine angemessene finanzielle und personelle Ausstattung nannte er als wesentliche Voraussetzung für den Erfolg. Eine Bioregion sei ein dynamischer Entwicklungsprozess. Was es auf jeden Fall brauche, „ist ein langer Atem.“
„Pfiffige Ideen sind gefragt“
Die Soziologin Petra Wähning aus München, die Projekte der ländlichen Entwicklung in Bayern begleitet, vorrangig die Öko-Modellregionen, gab zu bedenken, „dass wir von Systemlogiken dominiert werden.“ Auch wenn es den Anschein habe, als sei die Entwicklung nicht steuerbar und der Finanzkapitalismus nicht überwindbar, glaubt Wähning, dass die Welt sehr wohl gestaltbar ist: „Wir müssen uns die Gestaltungsmacht zurückholen. Es geht um das Tun, um das gemeinsame Gestalten und nicht um das Recht haben oder darum, was andere ‚sollen’.“ Menschen werden auf dem Land deshalb aktiv, weil sie sich ärgern, weil sie nicht nur jammern wollen, weil sie ein Problem sehen und weil sie Ideen haben. Als entscheidenden Faktor nannte sie die Netzwerkarbeit, sprich das Zusammenspiel der richtigen Leute. Besonders gefragt seien pfiffige Ideen. Veranschaulicht hat Wähning ihre Ausführungen mit Beispielen erfolgreicher Entwicklungsprojekte im ländlichen Raum. „Auch hier in Mals und Umgebung lässt sich einiges auf den Weg bringen“, so die Referentin.
Natürliches Wirtschaften
Dass man im Einklang mit der Natur erfolgreich und innovativ wirtschaften kann, ging aus den Ausführungen von Herbert Niederfriniger hervor, dem Geschäftsführer des Unternehmens holzius. Dieses setzt seit über 10 Jahren auf nachhaltiges Bauen mit Vollholz, und zwar ohne Leim und Metall. „Die Wirtschaft hat der Gesellschaft zu dienen“, so das Credo des ehemaligen Tischlers und Försters. Ein ökologisches und nachhaltiges Wirtschaften gehöre ebenso zur Firmenphilosophie von holzius wie ein auf das Gemeinwohl ausgerichtetes Arbeiten. „Außerdem setzten wir auf Kooperation anstelle von Konkurrenz“, so Niederfriniger.
Politik „von unten“
Dass Innovation nicht bedeutet, mit allem Bisherigen und Bewährten zu brechen, unterstrich die Professorin Susanne Elsen von der Freien Universität Bozen. „Im Gegenteil, Innovation ist oft nichts anderes, als das Nutzen und das Beleben bewährter Traditionen in einem neuen Kontext.“ Elsen verwies auf die Potentiale, wie sie etwa die Gemeingüter und Nutzungsrechte im Vinschgau für die Entwicklung des ländlichen Raums bergen. Konkret nannte sie die Weide in Gemeinschaftsnutzung, die Wasserbewirtschaftung mit den Waalen und den Gemeinschaftsbesitz an Wald. In der Malser Volksabstimmung zum Verbot von Pestiziden sieht die Professorin „einen Mosaikstein einer neuen Politikkultur hin zu einer Gemeinwohlregion.“ Mals habe außerdem als erste Gemeinde Südtirols einen Bürgerhaushalt eingeführt. Zudem sei eine Bürgerbeteiligungsgesellschaft für die öko-soziale Entwicklung des Obervinschgaus ins Leben gerufen worden. „Die soziale Bewegung für ein pestizidfreies Mals ist derzeit die wirksamste und prominenteste politische Initiative der Zivilgesellschaft im Alpenraum“, so Elsen
Nein zu „Eventisierung“
Aber auch vor Fehlentwicklungen warnte die Referentin. Als solche nannte sie die Fixierung auf immer mehr Wachstum, schnelle Profitinteressen, die Orientierung an rein touristischen Interessen, Monokulturen in Wirtschaft und Gesellschaft, die Privatisierung von Kommerzialisierung von Gemeingütern und die Tendenz, „alles zu vermarkten und zu ‚eventisieren’“. Den Abschluss des ersten Tages bildete ein von Markus Lobis moderiertes Podiumsgespräch mit Niederfriniger, Elsen und dem Glurnser Bürgermeister Alois Frank. Auch Letzterer unterstrich, dass Innovation nicht mit etwas völlig Neuem gleichzusetzen ist, sondern auch heißen kann, alte Werte neu zu entdecken zu leben. Als Beispiel nannte er das „gemeinsame Leben und Wohnen auf engem Raum, das in Glurns einst verpönt war und jetzt wieder gefragt ist.“ Auch Niederfriniger verwies auf den Wert alter Traditionen: „Vieles wurde leider verlernt, auch in der Holzbranche.“ In Sachen Pestizide wolle Glurns laut dem Bürgermeister dem Beispiel Mals folgen, „aber im Dialog und gegenseitigen Austausch, sonst geht es nicht.“ Niederfriniger gab sich überzeugt, „dass es noch Zeit braucht, aber dass sich vieles ändern wird.“
Geballte Vielfalt
Einen Einblick in die Vielfalt erfolgreicher Initiativen, Unternehmen und Projekte im Vinschgau, in ganz Südtirol und darüber konnten die Tagungsteilnehmer am 24. März gewinnen. Innerhalb von jeweils 7 Minuten wurden 14 Projekte und Initiativen vorgestellt. Die Palette reichte vom Projekt „Comunfare“ in Rovereto, dem „Ernährungsrat Südtirol“ und der Initiative „Innsbruck isst lokal“ bis hin zu „Hanf als Lebensmittel und Baustoff“, BASIS Vinschgau-Venosta, Künstlerinitiative BAU in Südtirol, GAP - Glurns Art Point, Sozialgenossenschaft Vinterra, Calvenschlössl, Stilfser Bergkräuter, „CIPRA Youth Council“ und weiteren innovativen Projekten. Andrea Heistinger, Agrarwissenschaftlerin, Autorin und Beraterin aus Österreich, zeigte auf, dass erfolgreiche Projekte eine positive Wahrnehmung schaffen. Besonders wichtig sei der Erhalt und die Weitergabe althergebrachten Wissens, speziell im Bereich Saatgut und Sortenvielfalt. Allerdings: „Das Wissen ist eine Sache, das tatsächliche Tun eine andere.“ Über die Wiederbelebung einer Region in Portugal sprach Stefan Döblin in seinem Referat „Vom Saatgut zur Bioregion“.
Buntes Rahmenprogramm
Auch Kulturwanderungen, Musik mit der „Unterbiberger Hofmusik“ aus Bayern sowie Landbegehungen in Stilfs, Mals und Burgeis gehörten zum Festival. Den Themen sinnvolle Vernetzungen und Gemeinwirtschaft war die Tagung „By Design or by Disaster“ gewidmet, die zeitgleich an der Uni Bozen stattfand. Am 24. März kam eine Gruppe von Studierenden des Masters in Ökosozialem Design nach Mals, um sich mit Beispielen der Gemeingüterwirtschaft und des Designs auseinanderzusetzen. Allen „hier und da“-Teilnehmern gemundet haben die von Benjamin Moser und Günther Pitscheider zubereiteten regionalen Gerichte. Das Ziel, jenen Unternehmen, Projekten und Initiativen eine Bühne zu geben, die zu einem ökonomisch und ökologisch nachhaltigen und guten Leben im ländlichen Raum beitragen, haben die Festival-Veranstalter auf jeden Fall erreicht. Hand in Hand damit bot das Festival auch beste Voraussetzungen für das gegenseitige Kennenlernen und den Netzwerk-Ausbau. Wie Armin Bernhard ankündigte, ist „hier und da“ nicht als Eintagsfliege zu verstehen, sondern als Veranstaltung, die jährlich stattfinden soll, und zwar immer am Palm-Wochenende.