Die Angst vor der Angst
Im Bild (v.l.): Harald Tappeiner, Christian Califano, Albin Steck, Ingeborg Forcher und Verena Perwanger

Für „Normale“ der Alltag, für Betroffene der Horror

Publiziert in 39 / 2014 - Erschienen am 5. November 2014
Vortragsabend zum Thema Angststörungen. Noch immer viele Vorurteile. Bei der Behandlung psychischer Leiden gibt es zum Teil noch Lücken. Schlanders - Für die meisten von uns ist es kein Problem, mit dem Auto zu fahren, einzukaufen oder in einen öffentlichen Bus zu steigen. Für Menschen aber, die unter Angststörungen leiden, kann die Verrichtung alltäglicher Dinge zum puren Horror werden. Über die Ursachen, Symptome und die Behandlung von Angststörungen und Panikattacken wurde am 28. Oktober bei einem gut besuchten Vortragsabend in der Aula Magna der Fachoberschule für den wirtschaftlichen Bereich in Schlanders informiert und diskutiert. Als Gäste am Podium konnte der Psychologe Harald Tappeiner im Namen der Veranstalter (Bildungsausschuss, Psychologischer Dienst, Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit selektivem Mutismus und Verein „Lichtung“) die neue Primarärztin im Psychiatrischen Dienst Meran, Verena Perwanger, willkommen heißen sowie die Leiterin von Selbsthilfegruppen, ­Ingeborg Forcher, den Koordinator des Psychologischen Dienstes im Vinschgau, Albin Steck, und den Leiter der Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit selektivem Mutismus, Christian Califano. Angststörungen bei Erwachsenen Auf Angststörungen bei Erwachsenen ging Verena Perwanger ein. Angst sei an und für sich ein normales Gefühl. Sie diene als ­Signalfaktor. „Zum Problem wird die Angst, wenn sie sich von der Ursache loslöst und sich verselbstständigt“, führte die Fachärztin aus. In schwer wiegenden Fällen kommt es zu Panikattacken und zum so genannten „Circulus vitiosus“ der Angst, also der Angst vor der Angst. Perwanger: „Betroffene haben Angst davor, dass sich Angstzustände wiederholen und neigen daher dazu, Situationen, welche die Angst auslösen könnten, zu vermeiden, obwohl es besser wäre, genau solche Situationen nicht zu vermeiden, sondern sich ihnen bewusst zu stellen.“ Die pathologische Angst ist ein eigenes Krankheitsbild. Zu den Symptomen gehören Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, Gefühle der Entfremdung, die Angst, die Kontrolle zu verlieren, die Angst zu sterben und das Gefühl der bevorstehenden „Katastrophe“. Nicht selten sei die pathologische Angst ein Begleitsymptom anderer ­psychiatrischer Krankheitsbilder wie etwa von Depression. Panikattacken, also plötzliche auftretende, akute Angstanfälle, seien oft mit dem Gefühl verbunden, zu sterben oder verrückt zu werden. Meistens setzen auch massive körperliche Symptome ein, wie etwa Herz­klopfen, trockener Mund, Schwindel, Atemnot oder Übelkeit. Als mögliche Folgen nannte ­Perwanger die Angst vor der Angst, das Vermeidungsverhalten, die Abhängigkeit von „Begleitpersonen“, den sozialen Rückzug und die zunehmende Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Lebensqualität. Auch auf Therapiemöglichkeiten ging Perwanger ein sowie auf Hilfen, wie sie der Psychiatrische Dienst anbietet. In vielen Fällen sei auch eine psychologische Begleitung angebracht. Sehr hilfreich könne auch der Austausch mit anderen Betroffenen sein, also die Teilnahme an Selbsthilfegruppen. „Das Vermeiden bestimmter Situationen war der falsche Weg“ Was Menschen, die unter Panik­attacken und Angstzuständen leiden, durchmachen und wie es gelingen kann, sich aus den Klammern der Angst zu befreien, schilderte Ingeborg Forcher aus Galsaun in einem persönlichen Erfahrungsbericht. Sie hat zehn Jahre gelitten. Angefangen hatten die Angstanfälle nach dem Abschluss der Matura im Jahr 1981. „Nach den unzähligen Angstanfällen wählte ich, wie ich heute weiß, sicher den falschen Weg, denn ich begann immer öfter, Situationen, in denen die Symptome aufgetreten waren, zu meiden,“ berichtete Forcher. Nachdem sie „ihre Diagnose“ Angststörungen durch einen Fernsehbericht erkannt hatte, „wurde ich aktiv. Ich erkannte, dass ich die Angst vor der Angst nicht weiter ausufern lassen durfte.“ Im Zuge einer einjährigen Gesprächstherapie wurde ihr bewusst, „dass die Angst etwas war, mit dem sich meine Seele bemerkbar machen wollte, um darauf hinzuweisen, wo ich mich im Innersten verleugnet hatte, an meinem Leben und dessen Erfüllung vorbeigesegelt war. Ich musste den Teufelskreis der Angst vor der Angst unterbrechen, so dass es mir möglich war, endlich mit meinen Panikattacken umzugehen, ihnen nicht mehr hilflos gegenüberzustehen, sondern mir selbst helfen zu können.“ Ihr Psychologe empfahl ihr, ein „Angsttagebuch“ zu führen. Forcher: „Ich musste mich den angstbesetzten ­Situationen aussetzen, damit ich erleben konnte, wie die Angst zwar massiv anstieg, sich jedoch wieder legte und nichts passierte.“ Sie lernte auch Atemübungen, um einer Hyperventilation entgegenzuwirken. Es sei für sie wichtig gewesen, „über körperliche Zusammenhänge Bescheid zu wissen und zu verstehen, welchen Einfluss meine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen auf mein Verhalten hatten.“ Sie musste verstehen, „dass ich in meinem Leben etwas ändern musste.“ „Ich verleugnete meine Gefühle nicht mehr“ Durch die Auseinandersetzung mir ihren Ängsten sei ihr vieles bewusst geworden „und ich wuchs in meiner Stärke. Ich verleugnete nun meine Gefühle nicht mehr, zog auch kein angepasstes Verhalten mehr vor. Je öfter sich kleine Erfolge einstellten, desto mehr nahm mein Selbstvertrauen zu. Ich musste die körperlichen Symptome zulassen.“ Eine weitere wichtige Botschaft von Ingeborg Forcher ist: „Man kann Ängste auch wieder verlernen, sich ihnen zu stellen ist aber notwendig. Durch die harte Arbeit an und mit mir gewann ich auch das Vertrauen in meinen Körper wieder. Ich habe mich selbst bei der Hand genommen und mich in ein besseres Leben geführt.“ Forcher will Mut machen, zu seinen Ängsten zu stehen: „Sehen wir die Angst als Chance, das Leben reicher zu gestalten.“ Eventuell vorhandene Blockaden gelte es zu lösen, das Leben zu überdenken, die eigene Persönlichkeit wieder zu entdecken und zu leben. Die Betroffenen werden aufgerufen, „ihre Position des Leidens und passiven Erduldens zu verlassen.“ Forcher wörtlich: „Werdet aktiv, handelt, kämpft und es wird auch euch möglich sein, eine Angststörung zu bewältigen!“ Eine große Hilfe könne auch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe sein. Dadurch können Betroffene aus der sozialen Isolation ausbrechen. „Die Selbsthilfegruppe ist keine Klage-, sondern eine Lerngruppe, in ­welcher der Fokus aber nicht nur auf den Problemen liegt. Vielmehr soll es in der Gruppe gelingen, gemeinsam nach vorne zu schauen. Es geht um ein Zurückfinden in ein normales Leben.“ Sie habe auf dieser „Reise zu mir selbst“ viel gelernt. Sie habe gelernt, ihr selbst zu helfen und auch gelernt, „dass nur die wahren Werte auf Dauer glücklich machen können.“ Angst hat viele Gesichter Albin Steck referierte zum Thema „Angst und Angstbewältigung bei Kindern und Jugendlichen, mit Berücksichtigung des selektiven Mutismus“. Die Angst habe viele Gesichter. Auch Kinder und Jugendliche leiden unter Angststörungen, sodass Behandlungen notwendig werden. Mädchen seien häufiger betroffen als Buben. „Kinder sind aber keine kleinen Erwachsenen“, mahnte Steck. Als mögliche Ur­sachen für Angststörungen nannte er schulischen oder sportlichen Leistungsdruck, oder auch schwierige Familiensituationen, etwa die Trennung der Eltern. Grundsätzlich hielt er fest, dass es wichtig ist, Angst­störungen zu erkennen, sie zu benennen, zu begreifen und dann auch zu handeln. „Um die psychische Gesundheit müssen wir uns ebenso bemühen wie um die körperliche Fitness“, so Steck. Wichtig sei auch das Wissen: „Wir müssen uns fragen, wer mit der Angst verdient. Verdienen die Medien - Stichwort ‚nur schlechte Nachrichten’ - die Politik, religiöse Sekten?“ Die theoretischen Ausführungen von Albin Steck über den selektiven Mutismus ergänzte Christian Califano als betroffener Vater und Leiter der Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit selektivem Mutismus mit persönlichen Erfahrungen. Als selektiven Mutismus bezeichnet man in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine emotional bedingte psychische Störung, bei der die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigt ist. „Unsere Tochter verhielt sich zu Hause ganz normal. Genau so wie jedes Kind,“ sagte Califano. Als sie aber in den Kindergarten kam, hat sie überhaupt nicht geredet und sich auch anderweitig nicht mitgeteilt. Nach dem ersten Kindergartenjahr habe sie noch immer nicht geredet. „Hier in Südtirol konnte uns niemand helfen“, führte Califano aus. Durch Zufall sei seine Familie auf eine spezialisierte Therapeutin in Deutschland gestoßen. Rund ein Jahr lang fuhr die Familie mit der Tochter monatlich zur Therapie nach Konstanz. Die Therapie verlief gut, es stellten sich erste Erfolge ein. Califano bedauerte, „dass hier bei uns keine gute Thearpie angeboten wird.“ Als Leiter der Selbsthilfegruppe sei er von landesweit rund 20 Fällen von selektivem Mutismus in Kenntnis, „wobei die Dunkelziffer aber sicher höher ist.“ Die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe sei wichtig und sehr hilfreich. Califano: „Die Leute sollen sich nicht schämen und das Problem nicht in sich hineinziehen.“ Auch kleine Schritte zur Bewältigung der selektiven Mutismus seien wichtig. Die Realität sieht anders aus als die Theorie Bei der Diskussion wurde unter anderem beanstandet, dass zwar professionelle Hilfen zur Bewältigung von Angststörungen, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen angeboten werden, doch die Realität sehe oft anders aus als die Theorie. Abgesehen davon, dass psychisch kranke Menschen vom Umfeld noch immer häufig als „Spinner“ abgestempelt werden, ist es de facto mehr als schwierig, dass zum Beispiel Betriebe ­psychisch kranke Menschen einstellen. Kritisiert wurde auch das Fehlen gezielter fachlicher Therapien, zum Beispiel für Menschen mit Autismus. Albin Steck räumte ein, „dass es in diesem Bereich Nachholbedarf gibt.“ Auch die Frage, wie schwer sich junge Menschen, die bereits unter Angststörungen leiden und die Oberschule nur mit Mühe abgeschlossen haben, tun werden, in die Arbeitswelt Eingang zu finden, wurde aufgeworfen. Weiters wurde beanstandet, dass die für die ­psychiatrischen Dienste vorgesehenen Stellen zu einem nicht unerheblichen Anteil nicht besetzt sind. Verena Perwanger ist sich dieser Probleme bewusst: „Wir kämpfen täglich um Ressourcen und Personal. Gleichzeitung drohen uns finanzielle Kürzungen.“ Die Dienste seien zwar „kampfbereit“, „aber noch wichtiger ist es, dass Betroffene ihre Stimme erheben und ihre Anliegen öffentlich vorbringen, so wie das heute hier geschieht.“ Sepp Infos Wo gibt es Hilfe? Psychologischer Dienst: Hauptsitz Meran (0473 25100; telefonische Anmeldung von 11 bis 12 Uhr); Schlanders (0473 736692; psychologie.vinschgau@sabes.it) Selbsthilfegruppe für Depression und Angststörung: Die SHG trifft sich jeden 2. und 4. Montag im Monat von 19 bis 21 Uhr im Haus der Begegnung in Schlanders (Göflanerstraße 4). Kostenlose Einzelgespräche finden jeden 2. und 4. Montag des Monats von 17 bis 19 Uhr im Haus der Begegnung statt. Ein Neueinstieg in die SHG ist jederzeit möglich (Anmeldung erforderlich unter 0473 624558 oder 339 1637100) Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit selektivem Mutismus: Das nächste Treffen findet am 28. November um 19 Uhr in Schlanders statt (Caritas Psychologische Beratung; Hauptstraße 131, Widum). Kontaktperson: Christian Califano (340 4007930 von 8.30 bis 18.30 Uhr; tamachri@libero.it)
Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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