Ganzheitliches Heilen in Schuls
Publiziert in 33 / 2007 - Erschienen am 26. September 2007
Eine „revolutionäre“ Arbeitsweise im „Ospidal d’ Engiadina Bassa“ in Scuol (Schuls) in der Schweiz. So bezeichnet Dr. Joachim Koppenberg, der Chefarzt der Anästhesie und Direktor des Spitals, das Projekt des ganzheitlichen Heilens, das es dort seit 1. Juli 2007 gibt. „Der Vinschger“ hat sich die sogenannte Abteilung der Komplementärmedizin in Scuol angeschaut.
Von Daniela di Pilla Stocker
Der Besucher tritt ein, es riecht angenehm nach Essenzen in der Abteilung für Komplementärmedizin, ein leichtes warmes Gelb schimmert von den Mauern, auch die drei Patientenzimmer, das Wohnstudio, das Arztzimmer, der Empfang, das Besprechungszimmer der Ärzte und Pfleger sind im gleichen warmen Gelb gehalten. Aus Holz sind die wenigen akkurat ausgesuchten Möbel. „Wir wollen weg von der eigentlichen Krankenhausatmosphäre, wir wollen den Patienten auch räumlich einen angenehmen Aufenthalt bieten“, sagt Dr. Hannes Graf, der Leiter der Komplementärmedizin in Schuls. Er ist Schulmediziner mit anthroposophischer Zusatzausbildung (siehe Erklärung). Er hat schon früher im Ospidal gearbeitet. Damals und dort wurden zwei Ärzte Freunde: Er und Gian Flury, der Chefarzt der Inneren Medizin, ein guter Anfang für das spätere Projekt.
Im Untergeschoss des Akutspitals in Schuls waren Personalwohnungen untergebracht. Es galt diese umzugestalten. „Die Investition sollte sich in Grenzen halten“, erklären die Ärzte. Dr. Graf hat ein Projekt erstellt, es wurde von den lokalen Politikern gutgeheißen. Grünes Licht für diesen wichtigen Schritt zum ganzheitlichen Heilen. „Es geht uns darum, den Patienten zu heilen“, sagen die Ärzte und sie wollen ihm, neben der Schulmedizin, ein zusätzliches Angebot bieten. Der Patient kann entscheiden, entweder Schulmedizin oder nur Komplementärmedizin oder beides. Die Frage des „Vinschgers“, ob nicht doch immer mehr Patienten sich für Beides entscheiden, wurde bejaht.
Seit erstem Juli, also seit knapp drei Monaten, bietet das kleine Spital mit insgesamt 34 Betten einen so wichtigen Zusatzdienst an. Was bedeutet dies für die Patienten? Sie kommen zu einem Gespräch beispielsweise bei Dr. Graf und werden ganz „normal“ untersucht. Das Procedere entscheidet der Patient. „Behandeln kommt von Hand“, sagt Dr. Graf. Das heißt die Berührung ist genauso entscheidend für die Heilung wie ein Medikament. Das Wichtigste überhaupt sei das Gespräch mit dem Patienten. Wie sieht es in ihm aus? Es könne sein, dass gezielte äußerliche Anwendungen Blockaden lösen und der Patient erst daraufhin formulieren kann, welche Ängste er habe, erklärt Dr. Graf anhand dieses Beispiels.
Was bietet die Abteilung für Komplementärmedizin in Schuls? Ärztliche komplementärmedizinische Begleitung mit anthroposophischer Medizin, Homöopathie und Phytotherapie. Äußere Anwendungen: Rhythmische Einreibungen nach Dr. Wegman, Wickel, Kompressen und Schröpfen. Dafür ist Therapeutin Rita Schönthaler mit der Pflegefachfrau Sylvia Parth zuständig (beide Fachfrauen sind aus dem Vinschgau, Anm.d.Red.). Die Arzneimittel stammen aus der Komplementär- wie auch aus der Schulmedizin. Entscheidend sei ihre natürliche pflanzliche und mineralische Basis. Dr. Graf berichtet noch über die Heileurythmie, einer Bewegungstherapie, die mit Elementen der Sprache und der Musik arbeitet und so die Seele anspricht; sie fördert die Selbstwahrnehmung und Heilungsprozesse.
Auch eine spezielle Strömungsmassage, nach Dr. Pressel, wird angeboten. Auf eine biologische Vollwerternährung wird im Spital ebenso geachtet.
Die Schwerpunkte in diesem Angebot sind die anthroposophische Krebstherapie, Unterstützung in Lebenskrisen, komplementärmedizinische Betreuung vor und nach der Operation sowie komplementärmedizinische Unterstützung bei chronischen Erkrankungen.
„Die Zusammenarbeit der Ärzte, der Pflegenden und Therapeuten ist eine interdisziplinäre“, erklärt Dr. Koppenberg. Nur so können die beiden Welten der Schul- und Komplementärmedizin miteinander zum Wohle der Patienten arbeiten, sie ergänzen sich, sie schließen sich nicht aus. Allerdings betonte er auch, dass das Spital ein ganz normales Akutspital sei, aber mit dem Zusatzangebot. Zudem gibt es die „Palliativ Care“ : schwer kranke und sterbende Patienten werden ganzheitlich betreut und begleitet.
Ein Wohnstudio für Angehörige ist ebenso eingerichtet. Oft wird der Einwand vorgebracht, dass Komplementärmedizin unnötige Geldmittel verschlinge, berichten die Ärzte. In der Schweiz wurden in einer groß angelegten wissenschaftlichen Studie (Programm Evaluation der Komplementärmedizin) im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit, die traditionelle Chinese Medizin (TCM), Homöopathie, Phytotherapie, Anthroposophische Medizin und Neuraltherapie untersucht. Das Ergebnis der Studie ergab, dass diese Methoden gleich teuer wie die Schulmedizin sind, bei geringeren Medikamentenkosten und dafür höheren Behandlungskosten (sprich persönliches Gespräch). Der im August 2004 erstellte Health Technology Assessment Report (HTA-Report) zeigte sogar, dass für Anthroposophische Medizin eine wissenschaftlich belegte Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit besteht.
Vinschger bzw. Südtiroler können auch nach Schuls gehen, allerdings als Privatpatienten. Koppenberg erklärt dem „Vinschger“, dass mit dem künftigen Interreg 4 Projekt vorgesehen werde, die administrativen Hürden für Patienten aus Tirol und Südtirol abzubauen.
Anthroposophische
Medizin
Die anthroposophisch (anthropos Griechisch = der Mensch) erweiterte Medizin wurde 1920 von Rudolf Steiner in Zusammenarbeit mit der Ärztin Ita Wegman und anderen Ärzten begründet. Es geht um eine spirituelle Erkenntnismethode, die ergänzend zur Naturwissenschaft das Geistige im Menschen erfahrbar werden lässt. Ein Erkenntnisweg zu diesem Geistigen ist die Anthroposophie (verkürzter Auszug aus der Broschüre zur Komplementärmedizin des Ospidals d’Engiadina Bassa in Scuol)
Komplementärmedizin
in Südtirol?
Auch in Südtirol ist Landesrat Richard Theiner (im Bild) bestrebt, ein Zentrum für Komplementärmedizin innerhalb eines Krankenhauses zu errichten. Die klinische Kommission hat sich kürzlich positiv zu diesem Vorhaben geäußert. Möglicher Standort könnte Meran sein. „Ich bin überzeugt von diesem Vorhaben wie auch von der Komplementärmedizin“, sagt Theiner dem „Vinschger“.
Seit der Bekanntgabe dieses Projektes, habe dies sofort zu Diskussionen jeglicher Art geführt von Befürwortern und Gegnern. Die Begründungen der Gegner seien nicht immer stichhaltig gewesen. Bereits 2004 sei eine Broschüre zur Komplementärmedizin erschienen. Basisärzte konnten eine Zusatzausbildung genießen, Apotheker und Apothekerinnen in Homöopathie, berichtet Theiner. Die Anhänger der Komplementärmedizin aus ganz Italien würden nach Südtirol schauen, um zu sehen, was sich nun tue. Die Gegner beobachteten das Geschehen auch genau. Eine ganzheitliche Sichtweise in der Medizin sei für den Patienten wichtig, ergänzt Theiner. Im AKH Wien gebe es die Abteilung für Komplementärmedizin bereits seit elf Jahren. Der nächste Schritt in Südtirol wird nun der sein, dass eine Arbeitsgruppe Vorschläge zur Verwirklichung erstelle. Wichtig ist für Theiner, dass die Abteilung in einem Spital entstehe. „Die Leute brauchen Sicherheit“, betont er. Die Komplementärmedizin soll zudem für alle zugänglich sein, auch für jene, die „keine dicke Brieftasche haben“, sagt Theiner. Das Vorhaben soll bereits im nächsten Jahr umgesetzt werden.
Was halten Sie von der Komplementärmedizin?
„Der Vinschger“ hat eine kleine Umfrage in Schlanders und in Prad gemacht. Die Frage lautete: Kennen Sie die Komplementärmedizin? Wenn ja, was halten Sie davon?
Roswitha Telfser (44), Schneiderin, Laas: Ja, ich kenne die Komplementärmedizin und äußere mich ganz positiv dazu. Aus persönlicher Erfahrung befürworte ich die alternativen Heilmethoden. Der Mensch muss als Ganzes betrachtet werden. Wenn es die Schulmedizin braucht, ist das auch in Ordnung.
Patrizia Hanny (30), Verkäuferin, Latsch: Man hört immer mehr von der Komplementärmedizin. Ich habe mich aber nie damit befasst. Ist sicher auch eine Einstellungssache.
Anna Pirhofer (19), Verkäuferin, Tschars und Jonathan Sollai (21), Koch, Marling: Keine Ahnung, was Komplementärmedizin ist. Wir nehmen keine Medikamente. Von Homöopathie haben wir schon einmal etwas gehört, wird schon gut sein.
Juliane Kaserer (26), Verkäuferin, Goldrain: Komplementärmedizin sagt mir nicht viel, Homöopathie schon. Therapie mit Globuli kommt für mich für mein Kind in Frage. Zudem rennt man auch nicht sofort zum Arzt, wenn man etwas hat.
Eine Frau aus Kortsch (58), die nicht genannt werden will: Ich finde die Komplementärmedizin in Ordnung. Komplementär- und Schulmedizin schließen sich ja nicht aus, sie ergänzen sich. Das ist doch positiv.
Michael Reissner (26), Student, Laas: Ja, ich habe schon von der Komplementärmedizin gehört, damit aber noch keine Erfahrung gemacht. Kann mir allerdings vorstellen, dass diese eine gute Alternative zur Schulmedizin sein kann. (dany)
Daniela di Pilla