Wer schaukelt wirklich in Naturns?
Der Prokulus Kulturverein auf ikonologischer Spurensuche.
Naturns - Der Prokulus Kulturverein wollte es wissen: Wer schaukelt wirklich an der Südwand der Kirche St. Prokulus in Naturns? Ist es der Heilige Paulus, den Freunde in einem Korb über die Mauern von Damaskus abgeseilt und zur Flucht verholfen haben oder ist es Bischof Prokulus aus Verona, dem die Kirche in Naturns schließlich geweiht ist? Der Prokulus Kulturverein hatte sich unter der damaligen Obfrau Maria Kreidl an Südtirols bedeutendsten Spezialisten für „ikonographische Programme“ gewandt, an Leo Andergassen, den Direktor des Landesmuseums Schloss Tirol. Im Sommer 2023, am 26. August, war der Fachmann zum 1. Mal eingeladen worden. Damals stand das Referat im Kirchhof unter dem Eindruck von über 30 Grad Celsius. Der Kulturverein und Museumsleiterin Tanja Flarer gaben sich mit den „überhitzten Ausführungen“ nicht zufrieden und luden Andergassen neuerdings zu einem Vortrag ein. Diesmal im Anschluss an die Mitgliederversammlung ins Prokulus-Museum. Schlagwortartig lautete diesmal der Titel „Paulus oder Prokulus?“ Unter den erwartungsvollen Zuhörern befanden sich auch Bürgermeister Zeno Christanell und der Vorsitzende der Tourismus-Genossenschaft Christof Tappeiner. Kulturverein-Obfrau Sabine Kuppelwieser bat um „Ausführung in einfacher Sprache“. Referent Andergassen eröffnete mit dem Hinweis, dass man bald nach Freilegung der Fresken 1925 annahm, der „Seilheilige (Andergassen) in St. Prokulus sei der Apostel Paulus. An dieser Annahme habe man bis heute festgehalten. „Ich werde aber beweisen, dass es nicht Paulus sein kann“, erklärte Andergassen und zeichnete über Bischofslisten – entstanden in karolingischen Zeiten – und über Stoffbänder als Bild-Text-Quelle schon mal die „herausragende“ Person des „Prokulus nach, der sich vergeblich bemühte, selbst zum Märtyrer zu werden“. In allen Darstellungen werde Paulus in einem Korb abgeseilt. Eine erste Auffälligkeit, die zweite war das Fehlen einer Bekehrungsszene, die der Buchmalerei über die Paulus-Flucht aus Damaskus immer beigefügt wurde. Auch wäre ein bartloser Paulus nicht vorstellbar, gab Andergassen zu bedenken. Dass der Phantasie kaum Grenzen gesetzt wurden, beweise ein Interpretationsversuch in Nordeuropa, mit dem man sogar „im eckigen Gebilde“ hinter Prokulus die Umrisse eines Schiffes sehen wollte. „Sehr weit hergeholt“ meinte der Vortragende, „aber ebenfalls Richtung Paulus weisend.“ Andergassen interpretierte den fehlenden Kopf in der Dreiergruppe als Proconsul Anolinus, der Prokulus’ Wunsch, ein Märtyrer zu werden, abgelehnt hatte. Im Blick des Seilheiligen Richtung Altarraum sah Andergassen einen „Sehnsuchtsblick“ nach diesem Märtyrertum, das er mit der Absicht, eine Wallfahrt ins Heilige Land zu wagen, erreichen wollte. Mit der Interpretation der Figurengruppen an den anderen Wänden ergänzte und rekonstruierte Andergassen diese Absicht. Dabei trug er dem früheren Kirchenzugang an der Südseite Rechnung, wodurch der Besucher sozusagen in Begleitung der Rinderherde an der Westwand den Kirchenraum betrat. Leo Andergassen versucht die Geschichte von Prokulus, die eine Legende bleibt, zu rekonstruieren und von den 7 anderen Heiligen und Bischöfen mit Namen Prokulus abzugrenzen. Weit ausgreifend kommt der Kunsthistoriker Leo Andergassen zum Schluss, „mit Paulus mache das alles keinen Sinn“.