Höhenflüge
Publiziert in 18 / 2003 - Erschienen am 25. September 2003
Jakob Tappeiner lehnt sich im bequemen Drehsessel zurück. Hinter ihm steht ein Holzregal, voll gestopft mit Büchern, Fotos und allerlei Erinnerungsstücken. Sein Büro im Verlag Tappeiner in der Industriezone Lana liegt auf der Südseite, wo nur nachmittags die Sonne hereinscheint.
Jakob wächst im ärmlichen Laas der 50er Jahre auf, viele seiner Jahrgangskollegen wandern aus. Er bleibt, arbeitet nach der Volksschule als Saisonarbeiter beim neu entstandenen Aufforstungsprojekt am kahlen Vinschger Sonnenberg. Aber die körperliche Arbeit wiegt schwer auf seinen Hüften. Eine schmerzhafte Hüftgelenksentzündung zwingt ihn für Monate ins Bett, später zum Wechsel des Arbeitsplatzes. Aber wohin? In Laas gibt es viele Handwerker, aber keine Berufe, die dem jungen Jakob zusagen. Im nahen Mals arbeitet ein Fotograf: Alois Ebner. Zwar hat Jakob Tappeiner keine Ahnung vom Fotografieren, aber in diesem Moment entscheidet die Hüfte. Sie wird bei dieser Arbeit vielleicht auch weniger weh tun. "Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie in diesem Beruf gearbeitet wird", erinnert sich Tappeiner. Momente werden auf Glasplatten gebannt, hauptsächlich Familien- oder Personenportraits.
Außerhalb des Fotolabors entdeckt Jakob Tappeiner sein Heimatdorf neu. Es entstehen viele heute schon historische Momentaufnahmen von Laas, in Postkartenformat.
Jakob Tappeiner blickt von seinem Schreibtisch auf, er hat das St. Sisiniuskirchlein stets vor Augen, in Postkartenformat, eingerahmt und etwas verblichen. Es hängt ihm gegenüber an der Wand.
Bald sind die drei Lehrjahre um und Ehrgeiz packt ihn, bewusst will er seine körperliche Einschränkung überwinden. In Südtirol gibt es keine Berufsschule, Jakob entscheidet sich ins Ausland zu gehen. Er will sich in seinem Beruf weiterbilden. In Wien nimmt er eine Stelle als Fotograf im anerkannten Fotobetrieb "Simonis" an. Bereits in der ersten Woche kommt er bis auf wenige Meter an den Bundespräsidenten Adolf Schärf heran, als Lampenträger. Abends lernt er in der "Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt", als "Meister" verlässt er sie.
Auch in Wien arbeitet Jakob Tappeiner im Labor, fertigt Kopien an, beinahe wie in Mals. Aber die Ansprüche sind andere, Präzision und ästhetisches Gespür sind gefordert. "Nur selten war eine meiner Kopien brauchbar", so der nüchterne Rückblick. Schon bald legt ihm sein Chef nahe, doch lieber in einem Fotobetrieb zu arbeiten, der mehr Wert auf Technik legt. Das technische Wissen rund um die neu entstandene Farbfotografie beherrscht Tappeiner, so gut, dass er innerhalb kurzer Zeit - im Alter von 20 Jahren - Leiter des Farblabors bei seinem neuen Arbeitgeber wird. Die solide Ausbildung als Farbfotograf öffnet ihm neue Möglichkeiten im Beruf. München, Graz und Salzburg. Nun hat er die Schranken der Behinderung überwunden. Letztlich zieht es ihn aber zurück nach Südtirol und er hilft beim Aufbau des Farblabors der Firma Gostner in Bozen.
Jakob Tappeiner schiebt sich aus dem Drehsessel. Erst auf dem zweiten Schritt wird sein Hüftleiden sichtbar. Vom Regal holt er sein erstes Arbeitsgerät. Die mittelgroße Kamera wiegt schwer in der Hand. Jakob Tappeiner dreht fachmännisch an den verschiedenen Knöpfen. Noch immer ist sie intakt, verstaubt aber schon seit Jahren als Erinnerungsstück auf einer Ablage.
Aus Amerika kommend hat sich die Idee der Schuljahrbücher Ende der 50er Jahre auch in Europa verbreitet. Die Farbfotos einzelner Schüler und ganzer Klassen sind ein voller Erfolg. In Südtirol kopiert der junge Unternehmer Jakob Tappeiner, der mit 24 Jahren gerade einen eigenen Betrieb aufbaut, diese Idee.
Mit einigen technischen Raffinessen schafft es der Neuling, die Fotos billiger als seine Konkurrenten anzubieten. Ausgeklügelte Veränderungen an Batterien, an Filmen und Fotopapier machen dies möglich. Jeder Schüler muss in einem exakt errechneten Abstand zur Kamera stehen, in einem genau festgelegten Winkel. So konnten Hunderte von Bildern mit ein- und demselben Filter entwickelt werden, ohne bei jedem Bild neue Berechnungen anstellen zu müssen. Der finanzielle Erfolg stellt sich wie von selbst ein.
Nach mehr als vier Jahren stagniert der Absatz. Inzwischen knipst Tappeiner die ersten Werbeaufnahmen für Hotelprospekte.
Das Telefon klingelt. Morgen geht es ab nach Gröden. Jakob Tappeiner plant, Bilder aus der Luft zu machen. Das Flugzeug steht bereit. Die Cessna 172 gehört der Firma, einen Piloten braucht es nicht, denn Jakob Tappeiner fliegt selbst.
Die Werbefotografie hat ihn immer schon interessiert. Auch in diesem Bereich entdeckt Jakob Tappeiner in Südtirol eine Marktlücke: Flugaufnahmen.
Anfangs klappt es mit den Bildern aus dem Flugzeug nicht so, wie er es sich vorstellt. Auf den Bildern liegen weiße Schatten. Nach einigen vergeblichen Versuchen wird klar, der Fotograf muss ein dunkles Hemd tragen. Das Fensterglas des Flugzeuges wird auf Hochglanz poliert. Zudem wird der Filmstreifen kürzer belichtet und länger entwickelt, womit sich der "Glaseffekt" verflüchtigt. Mit einem eigens gebastelten Saugnapf fixiert der Tüftler das Kameraobjektiv am Glas. Die Bilder werden immer besser. Aber noch fehlt die Lösung des zweiten Problems: "Jeden Abend stritt ich mich mit dem Piloten. Er brachte das Flugzeug nie in die Position, die ich wollte. Logisch, ich hatte das Bild bereits vor dem Abdrücken im Kopf." Jakob trifft einen Entschluss. "Ich mache den Flächenflugschein." Nun fliegt er selbst und kann gleichzeitig genau die Bilder machen, die er sich vorstellt. Vielleicht ist der Flugschein auch sein endgültiger Beweis, dass trotz körperlicher Grenzen unendlich viele Schranken überwunden und Höhenflüge gemacht werden können.
Die Firma Tappeiner hat heute über 40 Angestellte. Inzwischen hat Jakob Tappeiner ein künstliches Hüftgelenk, das ihm ein beinahe beschwerdefreies Leben ermöglicht.

Andrea Kuntner