arcus raetiae: Rückblicken, Vorausschauen
Der Kulturverein arcus raetiae feierte seinen 25-jährigen Geburtstag. Das grenzüberschreitende Projekt schaut zurück - und nach vorne.
PLAWENN - „Es ist ein großer Gedankenaustausch im Dreiländereck“, antwortete ein langjähriger Bekannter des Vereins, auf die Frage, was arcus raetiae für ihn bedeute. Kurz zuvor gab Konrad Meßner, Kulturwirt und Co-Gründer von arcus raetiae, am Sonntag, 21. Januar, einen Überblick über das, was der Verein im vergangenen Vierteljahrhundert auf die Beine gestellt, auf die Bühnen gebracht, was er angestoßen hat und - wohin seine Reise noch gehen wird.
Schon am 4. Februar wird die kleine Bibliothek eingeweiht. Über ihr, an der Decke, eine Himmelscheibe, deren Sternbilder und -konstellationen bereits seit Jahrtausenden Wissenschaftler, Künstlerinnen und Dichter zugleich befeuerten. Renald Deppe (1955-2023), Musiker, Komponist, langjähriger Vertrauter von arcus raetiae bestritt nicht nur während des Kultur- und Musikfestivals XONG (1999-2010) Konzerte, er kuratierte auch die 2022 ins Leben gerufene Reihe „ab und zu braucht es einen Abstand vom Zustand“, wo Weltliteratur der vergangenen Jahrtausende zum Nachdenken anregen sollte. Er vermachte dem Verein seine rund 1.200 Bände umfassende Bibliothek. „Das Gedächtnis Europas“, sagt Konrad Meßner, stünde Interessierten, die nach Plawenn auf der Suche nach Kultur, Musik, Freude und Austausch pilgern, zur Verfügung. Philosophie, Biographien, Belletristik, Lyrik, Briefwechsel, Tagebücher, Publikationen zu Kunst, Musik, Geschichte, Islam, Orient, Osten, Sozialwissenschaft und Religion reihen sich ordentlich aneinander. Ab und zu braucht es einen Abstand zum Zustand hat seinen eigenen Platz im Gedächtnis des Ortes gefunden. Der Ort ist ein Thema, der Abstand ebenso: „Die Riesenqualität von Plawenn liegt im Abstandnehmen. Und es ist meine Aufgabe, mich in den Dienst des Ortes zu stellen“. Im Dienst von Ort und Zeit stehen 2024 weitere Projekte auf dem Plan: Lebensbaum, Lebensraum & Lebenstraum oder Seiltanz werden im Rahmen des Instituts zur Verbesserung der Lage, (wo seit 2018, Co-initiiert von ZEIT-Journalisten Ulrich Ladurner, Themen wie Demokratie, Populismus, Journalismus, Naturgesetze u.v.a. im Fokus konzentrierter Betrachtungen stehen) versuchen, den sozialen Zusammenhalt zwischen den zahlreichen Initiativen des Dreiländerecks zu stärken.
In jedem Anfang steckte Vielfalt. Und Freiheit. Und vor allem die Region.
Die Konzentration von Vielfalt auf kleinem Raum ist allein an den 1000 Mitgliedern aus 27 Ländern des zum Kulturverein gehörenden Club of Mult, sichtbar. Doch der Fokus lag und liegt in den Überschreitungen der Grenzen des Dreiländerecks, worin Plawenn, ein Weiler auf 1.725 Metern Meereshöhe, eine besondere Rolle spielt. Denn oft sind es die nächsten Grenzen, deren Überwindung die meiste Energie benötigt. Und da Energie nicht verloren geht, sondern nur umgewandelt wird, kann dieser potente Verein auf Umwandlungsprozesse zurückblicken, die es in sich haben.
Während Konrad Meßner unter der rußgeschwärzten Decke der kleinen Küche des Ansitzes die Rohnen-, Käse- und Speckknödel auf fermentiertem Gemüse servierte, stellte ein weiterer Gast mit unverwechselbarem Zungenschlag aus dem Nachbarland fest: „XONG war die einzige Möglichkeit, das Dreiländereck nicht nur kulturell, sondern auch politisch zu fördern. Das fehlt heute“. XONG war in der Tat der erste Streich des Vereins. „Es war Christian Stecher, der 1997 überlegte, dass ein 500-jähriges Jubiläum der Calvenschlacht nicht belanglosen Reden überlassen werden sollte“, sagte Meßner. Und so gründeten die beiden, gemeinsam mit drei weiteren Mitgliedern, 1999 im Haus des Malers in St. Valentin arcus raetiae. Und hoben gleichzeitig das erste XONG-Festival aus der Taufe.
Schwindelerregend fantasievoll. Immer bodenständig.
Doch so bekannt XONG über die Grenzen hinweg werden sollte: es war nur eine von zahlreichen Initiativen. In jeder einzelnen steckte die Überzeugung, dass hohe Qualität und unabdingbares Hinwenden zur Region mit ihren Eigenschaften, ihren Bewohnern und Bewohnerinnen, Grundpfeiler des Gelingens sein würden. Das letzte XONG verzeichnete 10.000 Besucherinnen und Besucher, die Studie des MCI (2009) bestätigte dem Festival, einen wirtschaftlichen Mehrwert für die Region in Höhe von 1.5 Millionen Euro pro Auflage zu generieren. In den Baustellen blickte man auf Architektur, die neu aufgelegten, bzw. wiederbelebten Märkte Golli und Georgi holten Qualitätshandwerker und Produzentinnen aus der Region, brachten autochthones Saatgut und hochstämmige Bäume auf den Markt, zogen Menschen aus den drei Ländern in die Gassen von Mals und sorgten für Schwung im lokalen Wirtschaftskreislauf. Das Symposium Kirche in der Grenzregion versammelte erstmalig im Kloster Marienberg 2005 die Bischöfe von Chur, Innsbruck, Bozen, gemeinsam mit den Oberen der Lutherischen Gemeinde Merans und der Protestantischen Kirche Graubündens. Das Symposium Ohne Kultur kein Käse (2007) ist heute noch sinnstiftend für etliche Aktivitäten des Vereins, ein weiteres brachte die Erkenntnis, dass vor allem der Gastgeber, also die Menschen der Region, eine zentrale Rolle spielt, wenn Kulturtourismus funktionieren soll. Musikwerkstätten, wie con fuoco (2014), das 2017 eröffnete Archiv der Erinnerung sind nur einige Beispiele für das, was arcus raetiae in den letzten 25 Jahren erarbeitet hat. Kein Wunder, dass arcus raetiae für einen weiteren Besucher vor allem eines ist: „Meine größte Lebensschule.“
Bewusstseinsbildung. Mit Begeisterung und Freude.
Keines der Projekte sei als Selbstzweck entstanden, auch sei nicht immer klar gewesen, wie die Initiativen finanziert werden sollten, berichtete der Kulturwirt. Ohne Begeisterung wäre keines davon weit gekommen, schon gar nicht über die Grenze. Vieles, was verwirklicht wurde, hinterließ deutliche Spuren. Bald schon setzte sich die Erkenntnis durch, dass Volksmusik unters Volk gehöre; es war die Geburtsstunde der XONG-eigenen Wirtshausmusik-Reihe. „Ich darf behaupten, dass wir damals auch die regionale Küche in die Wirtshäuser gebracht haben“, sagte Meßner. Dem Zeitgeist voraus zu sein mag eine der herausragenden Qualitäten von arcus raetiae sein. Der Sitz des Vereines ist in der Vergangenheit verortet, seine Themen orientieren sich an der Gegenwart. Der Grenzverkehr bewegt auf kleinem Raum - und behält Zusammenhänge im Blick: „In Südtirol gibt es stabilisierende und mobilisierende Kräfte. Die mobilisierenden Kräfte sollten als das anerkannt werden, was sie sind: ein wertvoller Zugewinn. Das ist auch heute ein Riesenthema für Südtirol“, betonte Meßner. „Wer sich nur um die eigene Macht kümmert, verfault. Diese beiden Kräfte sollten sich wieder die Hand geben“.
Ganz persönlich: Was hat’s gebracht?
Auf die Frage, was arcus raetiae für sie sei, gab es weitere Antworten derer, die das Geburtstagskind feierten, darunter pensionierte Bürgermeister und Wirtinnen, junge Familienväter, Bauern, Weinbauexperten: „Eine wunderbare Vielfalt im Kleinen“, „Qualität statt Quantität“, aber auch „ein kultureller Mehrwert“, „eine große Inspirationsquelle“ und nicht zuletzt: „Für mich? Der Konrad!“. Dieser Konrad, der betonte, mehr zu danken und weniger zu schimpfen sei das Gebot unserer Zeit, nahm sich selbst beim Wort und dankte allen, die den Verein begleitet oder unterstützt haben, bevor die Musiker Stefano Valla und Daniele Scurati mit einem Geburtstagsständchen den musikalischen Nachmittag einleiteten.