Depression: Jeder Dritte sucht keine Hilfe
Publiziert in 35 / 2010 - Erschienen am 6. Oktober 2010
Schlanders – Jeder, der sich das Schienbein bricht, geht zum Arzt. Ist aber die Seele krank, igelt sich jeder dritte Betroffene ein und sucht keine Hilfe, obwohl auch psychische Erkrankungen heutzutage relativ gut behandelt werden können. Obwohl immer wieder informiert und sensibilisiert wird, kann von einer Gleichstellung zwischen körperlichen und psychischen Erkrankungen noch keineswegs gesprochen werden. „Menschen, die unter Depressionen leiden, werden nach wie vor oft stigmatisiert. Zusätzlich zu den Betroffenen sehen sich nicht selten auch Angehörige und Behandelnde Vorurteilen ausgesetzt. Weil die Depression von vielen noch immer nicht als Krankheit akzeptiert wird, tun sich Betroffene nach wie vor schwer, sich zur Depression zu bekennen oder sich gar zu outen.“ So umschrieb Harald Tappeiner, Psychologe und Psychotherapeut im Zentrum für Psychische Gesundheit, das „reale Bild“ der Situation, mit der Betroffene, Angehörige und Behandelnde zurechtkommen müssen.
Harald Tappeiner hatte am 1. Oktober anlässlich der 7. Auflage des „Europäischen Tages der Depression“ zusammen mit Georg Vallazza, dem Koordinator des psychiatrischen Dienstes im Vinschgau, und Emma Pobitzer, selbst Betroffene und Leiterin einer neuen Selbsthilfegruppe, zu einer Informations-Veranstaltung in das Foyer des Krankenhauses Schlanders eingeladen. Bürgermeister Dieter Pinggera überbrachte die Grüße der Gemeinde und verwies auf die Bedeutung von Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen. Georg Vallazza führte in die Dimensionen der Volkskrankheit Depression ein. In der westlichen Welt leiden ca. 5 Prozent der Bevölkerung an Depressionen, „das sind auf Südtirol umgelegt über 22.000 Menschen, doppelt so viel Frauen wie Männer. “ Als eine der Hauptursachen für das derart häufige Auftreten von Depressionen nannte Vallazza die Leistungsgesellschaft, den hektischen Lebensrhythmus und die vielen sozialen Verpflichtungen. Aber auch erbliche Einflüsse und frühkindliche Erfahrungen spielen beim Entstehen von Depressionen eine große Rolle. Die Depression sei laut WHO (Weltgesundheitsorganisation) die Volkskrankheit, die der Menschheit am meisten gesunde Lebensjahre raubt. Besonders alarmierend sei, „dass ein Drittel aller depressiv Erkrankten keine Hilfe sucht. Nur die Hälfte aller depressiven Patienten wird von Ärzten als solche erkannt und richtig behandelt.“
40 bis 70 Prozent aller Selbsttötungen seien laut internationalen Schätzungen auf die Erkrankung Depression zurückzuführen. In Südtirol haben sich im Vorjahr 53 Personen das Leben genommen, also im Schnitt eine pro Woche. Männer nehmen sich dreimal so häufig das Leben wie Frauen.
Im Krankenhaus in Schlanders wurden 2009 laut Vallazza 155 Personen mit psychiatrischer Diagnose entlassen, in Meran wurden zwischen 350 und 400 Akutfälle gezählt. „Die Depression ist eine ernst zu nehmende Erkrankung, die heute relativ gut behandelt werden kann,“, sagte Harald Tappeiner, und zwar mit psychotherapeutischen Methoden, mit Medikamenten und auch durch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen. Um gegen Tabus, Vorurteile, Stigmatisierungen, irrationale Ängste, ungerechtfertige Schamgefühle oder Selbstbeschuldigungen seitens Betroffener anzukämpfen, seien nicht nur die behandelnden Ärzte gefordert, sondern auch die Sozialdienste, die Politik und die Gesellschaft insgesamt.
„Sonst fliegt ihr raus“
Als besonders arg bezeichnete Tappeiner die Lage in manchen Großbetrieben im Vinschgau. Betroffenen wird mehr oder weniger klar zum Verstehen gegeben, dass sie es ja nicht wagen sollen, sich wegen so etwas wie Depression krankschreiben zu lassen, „denn sonst fliegt ihr raus.“ Der Druck in der Arbeitswelt sei selbst für gesunde Menschen oft groß, geschweige denn für solche, die psychisch krank sind. Auch in den Selbstaussagen von Betroffenen (siehe Seite 3) wird der Leistungsdruck oft als belastend angeführt.
Der Kampf gegen die Ausgrenzung der psychisch Kranken und ihrer Therapien ist offensichtlich genauso wichtig wie der Kampf gegen die Erkrankung selbst. Anlaufstellen für depressiv Erkrankte sind die Hausärzte, die Zentren Psychischer Gesundheit, die Psychologische Dienste, aber auch privat praktizierende Psychiater und Psychotherapeuten.
„Keine Lust, keine Kraft, keine Freude“
Ihren persönlichen Leidensweg beschrieben hat bei der Info-Veranstaltung Emma Pobitzer, und zwar öffentlich, konkret und mit viel Courage: „Ich leide seit 10 Jahren unter einer Depression, seit zweieinhalb Jahren geht es mir gut. Viele Faktoren haben zu meiner Depression geführt: die Wechseljahre, verschiedene Lebenssituationen, genetische Bedingungen. Ich wollte nicht wahr haben, dass ich unter einer Depression leide. Ich war traurig, ohne Grund. Ich hatte keine Lust, keine Kraft, keine Freude, keine Gefühle und auch keine Tränen. Ich schlief schlecht, mir war, als hätte ich Fesseln im Körper, die ganze Welt war für mich schwarz. Ich sah die Sonne nicht mehr, ich hatte kein Selbstwertgefühl mehr, ich sagte mir: ich kann nichts mehr, ich bin nichts mehr. Endlich nahm ich Hilfe in Anspruch, zuerst psychologische, dann medikamentöse. Ich absolvierte drei Aufenthalte im Therapiezentrum Bad Bachgart. Geholfen haben mir auch Gespräche, bei denen ich die wirklich wahren Freunde erkannte. Sehr hilfreich war und ist die Selbsthilfegruppe, an deren Treffen ich seit 4 Jahren teilnehme.“
Neue Selbsthilfegruppe
„Zusammen heller sehen“ heißt die neue, angeleitete Selbsthilfegruppe, die bei der Info-Veranstaltung vorgestellt wurde. „Schrittweise und aus eigener Kraft, aber mit Unterstützung der anderen Gruppenmitglieder wollen wir einen Weg aus der Erkrankung finden, unsere Gesundheit ausbauen und zusammen ‚heller’ nach vorne schauen“, heißt es im Info-Blatt. Das 1. Gruppentreffen findet am 7. Oktober 2010 von 18.30 bis 20 Uhr in den Räume der psychosozialen Beratungsstelle der Caritas in Schlanders (Hauptstraße 131) statt. Dort trifft sich die Gruppe, geleitet von Emma Pobitzer und begleitet von Harald Tappeiner als „Starthelfer“, jeden ersten Donnerstag im Monat von jeweils 18.30 bis 20 Uhr. Ansprechpartner der Selbsthilfegruppe sind Emma Pobitzer (348 7686251) und Harald Tappeiner (339 2145167).
Josef Laner