Zeige deine Wunde
Luise Ruatti und Walter P. Auer verwandeln Wiese in eine „Soziale Plastik“.
Naturns - Sie ist fast einen Hektar groß, liegt in der Nähe der Obstgenossenschaft Texel in Naturns und ist weitum eine Rarität. Eine Rarität deshalb, weil die Wiese von Luise Ruatti nicht intensiv genutzt wird, sondern weil sie eine artenreiche Grün- und Ackerfläche ist. Sozusagen eine Insel inmitten von Obstbauflächen. Seit kurzem ist die Wiese zusätzlich zu einer „sozialen Plastik“ geworden. Mehrere Wochen lang haben Luise Ruatti und der Naturnser Künstler Walter P. Auer daran gearbeitet, die Wiese in eine „Soziale Plastik“ zu verwandeln. „Die Idee für dieses Projekt ist entstanden, als ich mich mit dem Künstler Joseph Beuys und seinen außergewöhnlichen Werken befasste“, sagt Luise Ruatti. Vieles, was Beuys gesagt und in seinen Werken zum Ausdruck gebracht hat, „sind auch meine Gedanken und Überzeugungen.“ So etwa das Bestreben von Beuys, mit der Kunst gestaltend auf die Gesellschaft einzuwirken. „Auf eine Gesellschaft, in der heutzutage vielfach nur noch eines zählt, nämlich immer mehr, immer größer, immer schneller.“ Was dabei laut Ruatti unter die Räder komme, sei das eigentlich Wesentliche, was den Menschen ausmache: das Soziale und das Miteinander, das Offensein, das Staunen vor der Natur, das Geistige. Ruatti und Walter P. Auer erinnern auch daran, dass sich Beuys (1921-1986) von den Ideen und der Gedankenwelt von Rudolf Steiner beeinflussen und inspirieren ließ. Die „Soziale Plastik“ auf der Wiese in Naturns ist eigentlich nur von oben gut einsehbar, weil das Pentagramm, das in die Wiese gemäht wurde, erst aus einiger Entfernung als Ganzes sichtbar wird. „Das Pentagramm ist ein uraltes Schutzsymbol. Es war das Symbol der Venus, sowohl des Planeten als auch der Göttin“, erläutert Auer. Pythagoras kannte das Pentagramm als Symbol für Gesundheit. Es gilt auch als Zeichen für den Kreislauf des Lebens. Weitere symbolische Deutungen der 5 Ecken des Pentagramms sind der Geist und die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Der umgekehrte fünfzackige Stern ist hingegen das Zeichen für satanische Verehrung: die beiden Ziegenkopf-Hörner an seiner Spitze sollen Satan als Gott darstellen. Das Pentagramm auf der Wiese in Naturns kann zu Fuß erwandert werden. An den Enden der Spitzen gelangt der Wanderer an Installationen, bei denen er Sprüche und Gedanken von Beuys lesen und mit Hilfe eines Schlauches auf die Natur hören bzw. ihr etwas sagen kann: „Der Mensch muss wieder nach unten mit der Natur und nach oben mit den Engeln und Geistern in Beziehung treten“ (J. Beuys). Was besonders stark ins Auge sticht und stark an das Werk „Zeige deine Wunde“, das Beuys 1976 schuf, erinnert, ist eine alte Bettstatt, die am Rande der Wiese aufgestellt wurde und auf ihre Art eine Wunde zeigt: ein gut sichtbarer Bettnässer-Fleck in der Mitte der Matratze. An einer Tafel neben der Installation steht folgender Satz von Beuys geschrieben: „Zeige deine Wunde, weil die Krankheit offenbar sein muss, damit sie geheilt werden kann.“
Wächter aus Erlenholz
Als Wächter der Installationen haben Walter P. Auer und Ruatti hohe Stelen geschaffen, die sich aus je 7, aufeinander gereihten Stücken aus Erlenholz zusammensetzen. Die Löcher in den Holzbrocken wurden von Ruattis Schwiegervater Engelbert alle mit einem Handbohrer gebohrt, er hat auch die Schweißarbeiten durchgeführt. Als Ruhe- und Kraftplatz und als Ort der Begegnung kann die mit Naturmaterialien überdachte Feuerstelle bezeichnet werden, wo man sich nach der Erwanderung des Pentagramms niederlassen kann. Dort wurde bereits am Muttertag gemeinsam gefeiert. Am 26. Mai sorgte dort Carlo Benzi mit der „Algunder Gruppe für Neue Musik“ für einen besonderen Abend. „Wir sollten im Sinne von Beuys keine Angst haben, unsere Wunden zu zeigen“, so Ruatti und Auer. Im Mittelpunkt der Kunst von Beuys stehe die seelische und körperliche Verletzlichkeit des Menschen, sowie der Zustand der Gesellschaft als Ganzes, aber auch der Natur und der Tiere im Besonderen. Walter P. Auer kann sich noch gut daran erinnern, dass Ende der 1990er Jahre der seinerzeit von Beuys gestaltete Omnibus für direkte Demokratie in Naturns Halt machte. „Wo bleibt hier die direkte Demokratie?“, fragen sich Ruatti und Auer. Großprojekte, die das Landschaftsbild unwiderruflich verändern, würden kritiklos genehmigt und durchgewunken, ohne die Bevölkerung zu informieren, geschweige denn, einzubeziehen. Ein Beispiel dafür sei der Erweiterungsbau im Gewerbegebiet gleich nebenan. Ruatti und Auer: „Es werden einfach Tatsachen geschaffen und ein 20 Meter hoher Turm wird in die Natur geklotzt, der das Landschaftsbild massiv verändert. Was hier mit der Natur und der Landschaft passiert, ist eine große, schmerzliche Wunde.“
