Die Totenrede
Publiziert in 21 / 2002 - Erschienen am 7. November 2002
Es war dies der Sommer, in dem die Mumie des Mannes aus dem abschmelzenden Gletscher aufgetaucht war. Diesen Sommer verbrach-ten wir im Gebirge auf der Südseite der Alpen als Nachbarn des gewesenen Gemeindehirten eines im Tal gelegenen Fleckens, der, nahe seiner ehemaligen Arbeitsstätte, den Hochalmen, ein Nebenhaus des jahrhundertealten Hofes fast unter Ausschluss spätmoderner Annehmlichkeiten bewohnte. Zur Elektrizität hatte er sich noch überreden lassen; Telefon, das die Gemeinde auch noch spendieren wollte, lehnte Ludi ab.
Nach einigen Tagen vorsichtig grüßender Annäherung kam es zu einem ersten Gespräch. Hier war nun jemand, der, ohnehin wenig ans Reden gewöhnt, mit den Fremden, langsam formulierend, Hochdeutsch sprechen musste; jemand, der sich die Worte suchen musste, ahnend, dass sein purer Vinschgauer Dialekt nie und nimmer von uns verstanden werden würde. So wies er, als ich ein Wort (dasjenige für Preiselbeeren) nicht verstehen konnte, mit einer die Tallänge ausmessenden, beschreibenden Geste hinunter und fragte (mehr sich als mich): “Wie sagen sie?” Sie: Das meinte die Leute im Tal, die oft mit Fremden sprechen und die dem Ludi durchaus, ja, schon etwas suspekt waren. Schon die. Mir schwante etwas bei seinem Preiselbeerwort, das ich dann erraten hatte, und, siehe, ich konnte es in meiner Reisebibliothek nachschlagen, in Lexers Mittelhochdeutschem Taschenwörterbuch.
In den Kategorien des stolzen Knechts waren wir für ihn (übersetzt): “Herrenleut”,” Herrische” aus der Ebene, dem “Niederland”, fast schon aus dem Meer. Teilnehmende Beobachtung: Er uns, natürlich. Er saß den lieben langen Tag auf dem Bänkchen vor seinem Haus. Er stand, unterhalb des nicht sichtbaren Similaun, da am Rand, ins Tal blickend, in die Landschaft, und er wusste, Meister der Erfahrenheit und der Wahrnehmung: Diese Wäschestücke, rechts auf der Leine, können noch nicht abgenommen werden, sie sind noch nicht trocken. Er sah mit seinem beschädigten Auge nicht mehr genau, wusste aber, welches Wild wo und in welcher Anzahl weit drüben im Hang stand, wo wir deppenhaft-ungeschult mit dem Eschenbachglas lang herumsuchten. Er glaubte an Geister. Er hörte in seiner rauchgeschwärzten Küche die Abendnachrichten am Kofferradio, schweigend. Er nahm, als er photographiert wurde, den Hut ab. Der von den Jungen (aus dem Tal), die den Cowboy als Oberindianer verehrten, mühselig restaurierte Backofen konnte nicht funktionieren; Ludi bedachte sie mit ruhigem Spott: ”Der ist ja noch aus dem Alten Testament!” Mit dem Flugzeug “fuhr” der in der Tourismusbranche auf Kosten der -zugebauten- Natur reich gewordene Großbauer (bei dem er hatte im Stall schlafen müssen) “nach Venedig - zum Kaffeetrinken!” Dass der Hochmütige, der Geizkragen, von Bankenbedrängung zuletzt schlaflos geworden, sich eines Tages erhängte - für Ludi keine Überraschung; sein Kommentar, dem Bibeldeutsch Luthers nah: “Er hätt es sollen fahren lassen.”
Die Totenrede stirbt aus! Vor einigen Jahren ist Ludwig Messner gestorben. Er ist von vielen wegen seiner
Kenntnisse geschätzt worden. Jeder Greis, der stirbt, heißt es in Afrika, ist eine brennende Bibliothek. Kein Zweifel: Der Ludi ist ein Sprachspeicher gewesen.
Thomas Kling
[K] Diese am 2. Februar 2002 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichte “Totenrede”von Thomas Kling für den am 13. Dezember 1999 verstorbenen 84-jährigen Ludi wird hier veröffentlicht auf Anregung des Künstlers Jörg Hofer . [/K]
[F] Terracotta [/F]
Früher haben junge Frauen ihre Haarpracht nicht einfach weggeschmissen. Der Zopf wurde aufbewahrt, in eine Schachtel gelegt, um später bei feierlichen Anlässen, wenn die Tracht angezogen wurde, wieder aufgesteckt zu werden. Auch andere Kostbarkeiten wurden den Schachteln anvertraut, Fotos und Andenken, Zähne und gepresste Blumen, Briefe. Schachteln, sorgfältig gebaut, gerippte oder ge-stanzte Kartonhäuser mit einem Bett aus Seidenpapier. Schachteln haben besonders schöne Proportionen, schwärmt die Künstlerin Elfi Sommavilla, und sie muss es ja wissen. In ihrem Elternhaus, in der Apotheke von Schlanders, gibt es - und gab es früher noch viel mehr - Schachteln und Schubladen mit Fächern in verschiedenster Größe und Tiefe, mit Aufschriften auf weißen Emailschildchen, Gewürze und Spezereien, Pülverchen und Salben, Tee aus aller Welt. Die Elfi hat einige der ausgedienten Kästen in ihrem neuen Heim und vor allem in ihrem Atelier aufgestellt und lässt sich auch weiterhin von ihnen anregen. Sie macht Ofenkacheln, Blumenvasen, Teeservice, alles aus Terracotta und jetzt Schachteln in Terracotta.
Unter den Begriffen packen verstecken verstauen sammeln zeigt sie ihre Keramiken: Hemdenschachteln wird sie in Naturns zeigen, bei Mode Alber (26.Oktober bis 2.November 2002); Weinschachteln können wir in der Vinothek am Damml in Schlanders sehen (5.11.-9.11). Und dann geht es weiter mit Brotschachteln im Einrichtungshaus Tischler in Meran (14.11.-22.11) und Bruneck (3.12.-7.12); Die besondere Schachtel in Bozen und Innichen, Die Schachteln zu Hause im Atelier in Schlanders, Karl Schönherr Straße 40 (17.12-22.12.02 von 15-18 Uhr), auch nach Vereinbarung Tel.0473621069 - 3356054146.
[F] Quarz [/F]
Eine Felswand, braungelb und weiß in der Morgensonne leuchtend, ein Bildschirm mit Blick ins Jenseits. Ich sehe in diesem Quarz Schwangerschaft und Geburt und Ludis Feuer lodern. Quarze bringen angeblich Unglück, das habe ich irgendwo gelesen. Die Be-
zeichnung für diesen milchigweißen Stein stammt aus der böhmi-schen Bergmannssprache und bedeutet “Zwerg” im Sinne eines Berggeistes, der das Erz mit diesem wertlosen Mineral verschlechtert. Heute freilich wird mit Quarz die Computertechnik re-volutioniert. Die Zwerge wachsen sich zu Ungeheuern aus.
Quarz - unsere Berge sind voll davon und man begegnet ihm auch beim Aufstieg zum Hasenöhrl. Aus dem Stein, in dem die Seele eines Verstorbenen weilt, entsteht neues Leben. Zwerge und Geister pflegten hier zu speisen.
Auch wir haben hier Rast gemacht und uns vor der letzten Gratkletterei gestärkt. Die Luft ist dünn geworden und die Gedanken verändern sich, lassen los von den üblichen Dingen von da unten. Steinen wurde auch eine besondere Heilkraft zugeschrieben.“Feldspat, Quarz und Glimmer, diese drei vergess ich nimmer“... Quarz ist das häufigste Mineral überhaupt.
Auch die kleinen Kinder sollen aus diesen Steinen kommen. Es gibt männliche und weibliche Steine. Dies wurde früher bei uns geglaubt und Ähnliches denkt man auf der anderen Seite der Welt, auf Hawaii. Steine sind für die Insulaner Sitz der Götter oder der Ahnen, die nach ihrem Tode nach vielen Reinigungsritualen, die mehrere Menschenalter dauern, wieder auf die Erde zurückkehren. Die Berge in Hawaii sind aus Feuer geboren. Also Fegefeuer?
Auch ich habe es leuchten gesehen auf dem Weg zum Hasenöhrl und an Allerseelen gedacht, an einen Grabstein, jetzt im November- und ich habe mit meinem verstorbenen Bruder gesprochen.
Hans Wielander