Harte Zeiten fürs Wild
In Hintermartell ist die Lage besonders prekär. Tierliebhaber, Bauern und Jäger versuchen zu helfen.
Hintermartell - Sie stecken im meterhohen Schnee, finden nur noch Baumrinden zum Fressen, brechen im Stausee ein, können die Staumauer nicht überwinden und werden zum Teil sogar von rücksichtslosen Skitourengehern aufgescheucht. Die Lage für viele Hirsche, aber auch Rehe und Gemsen ist seit den außergewöhnlich starken Schneefällen Anfang Dezember 2020 in Hintermartell gelinde gesagt prekär. Ein Weiterkommen gibt es fast nur noch entlang der geräumten Landesstraße. „Und dort lecken sie nicht selten Streusalz auf, das ihrer Gesundheit ebenfalls schaden kann“, sagte kürzlich Johann Fleischmann vom „Hotel zum See“. Das Wild sei Anfang Dezember von den außergewöhnlich starken Schneefällen völlig überrascht worden, „sodass es sich nicht mehr in tiefere Lagen zurückziehen konnte.“ Erschwerend dazu komme, dass vor allem Hirsche nicht mehr imstande waren, die Staumauer talauswärts zu überwinden: „Ein Weiterkommen wäre nur durch den Tunnel in der Nähe der Staumauer möglich, aber das Wild meidet den Tunnel. Etliche Hirsche suchten Zuflucht im Stausee, brachen aber ein und verendeten.“ Besonders arg sei die derzeitige Lage für 100 Hirsche in Hintermartell, darunter vor allem Kälber. Um den hungernden Tieren einigermaßen über diese schwere Winterphase zu helfen, haben sich Johann Fleischmann und sein Sohn Dominik - sie sind beide Jäger -, aber auch Tierliebhaber, Bauern und weitere Jäger ein Herz gefasst. „Wir wollten einfach nicht mehr länger zusehen, wie das Wild elendiglich verhungert“, bringt Johann Fleischmann die Ansicht aller Mithelfenden auf den Punkt. Um regelrechte Wildfütterungen an Futterständen handle es sich nicht, wohl aber werde versucht, das Wild mit etwas Heu zu versorgen, vor allem auf Privatgründen. Außerdem habe man schon unmittelbar nach den ersten Schneefällen schmale Spuren freigeschaufelt, damit die Wildtiere die Straße verlassen und zurück in die Wälder gelangen können.
Wildfütterung umstritten
Dass die Wildfütterung besonders im Gebiet des Nationalparks Stilfserjoch umstritten und offiziell verboten ist, wisse man zwar, „aber all jene, die versuchen, das Wild während der derzeitigen Ausnahmesituation über den Winter zu bringen, sind einfach nicht bereit, tatenlos mitzuerleben, wie Dutzende von Wildtieren verhungern,“ sagt Johann Fleischmann und erinnert an die Aufgabe der Jäger, das Wild zu schützen und zu hegen. Ohne den Einsatz von Tierliebhaben, Bauern und Jägern wären in Hintermartell bereits Dutzende von Hirschen verendet, vor allem Kälber. Er habe selbst beobachtet, wie Tiere ihre Kälber zurückließen und entlang der geräumten Straße davonliefen: „Und wenn die Kälber einmal für eine bestimmte Zeit von ihren Muttertieren getrennt sind, werden sie von diesen nicht mehr angenommen. Das liegt in der Natur der Hirsche.“ Zu jenen, die sich schon seit Monaten für das Überleben Dutzender von Hirschen einsetzen, gehört auch Luis Preiss vom Alpengasthof „Zufritt“. Er versorgt die Tiere in unmittelbarer Nähe des Gasthofes mit Heu. Luis Preiss ist zwar kein Jäger, aber auch er kann und will nicht mit ansehen, wie die Hirsche leiden. Bereits im Winter 2019/2020, der ebenfalls schneereich war, hat er sich für die Hirsche eingesetzt.
Respektlose Wintersportler
Ein zusätzliches Problem für die Hirsche und andere Wildtiere stellen laut Johann Fleischmann nicht selten auch Wintersportler dar, „die ohne Respekt und Rücksicht mitten durch die Wälder mit Skiern abfahren und die Tiere, die mit ihrer Energie im Winter besonders haushalten müssen, aufschrecken.“ Skitourengeher seien grundsätzlich zwar sehr willkommen, aber sie müssen gelenkt werden: „Das Abfahren sollte nur über genau festgelegte Routen erlaubt werden. Derzeit ist es so, dass überall abgefahren wird.“ Was Fleischmann aufs Schärfste verurteilt, ist außerdem die Tatsache, „dass sich manche Dummköpfe, die mit dem Auto unterwegs sind, einen Spaß daraus machen, Hirsche, auf die sie auf der Straße stoßen, vor sich herzujagen.“ Das Wild habe es angesichts des meterhohen Tiefschnees eh schon schwer genug. Besonders ergiebige Schneefälle hatte es übrigens im Winter 2008/2009 gegeben. Die Landesregierung hatte sich Anfang März 2009 dafür ausgesprochen, das Wild im Nationalparkgebiet angesichts der gewaltigen Schneemassen „ausnahmsweise“ zu füttern. „Wir haben heuer eine Sondersituation und unternehmen wir nichts, dann verendet das Wild auf qualvolle Art und Weise“, hatte der damalige Landeshauptmann Luis Durnwalder argumentiert. „Es sind nicht nur die schwächsten Tiere, die verenden, vielmehr schaffen es auch die Stärksten nicht“, so Durnwalder damals. Rückblickend auf diesen Ausnahmewinter erinnert Johann Fleischmann daran, dass im Frühjahr 2009 über 120 Hirschkadaver gefunden worden seien. Zum Rotwildbestand insgesamt hält er fest, „dass es vor rund 50 Jahren nur einige Dutzend Hirsche in Martell gab, derzeit sind es zwischen 500 und 700.“ Auch dieser Umstand müsse zu denken geben.
„Heute schlechter als früher“
Wenig getan habe sich in den vergangenen Jahren bezüglich des Themas Nationalpark: „Es hat zwar oft geheißen, dass sich die Situation Hand in Hand mit der eigenständigen Verwaltung des Südtiroler Parkanteils verbessern werde, aber in Wahrheit ist wenig Konkretes geschehen. Wir stehen heute schlechter da als früher“, kritisieren Johann und Dominik. Was sie sich vorstellen können und was in Hintermartell entstehen sollte, wäre ein eingezäuntes und geschütztes Gelände für Wildtiere: „Man könnte dort zum Beispiel für eine bestimmte Zeit Hirschkälber unterbringen, pflegen und sodann wieder auswildern.“