„Es ist lange schon 12 Uhr!“
Georg Kaser: „Wir müssen unser gesamtes Gesellschaftssystem radikal ändern.“
Karthaus - Georg Kaser gilt als einer der einflussreichsten Klimaforscher weltweit. Er arbeitete zweimal als Leitautor am Weltklimarat (IPCC) der Vereinten Nationen mit. Im Interview mit dem der Vinschger spricht der Glaziologe und Klimaforscher, der mit seiner Frau in Karthaus und Innsbruck lebt, über den Gletscherschwund, den Klimawandel, die Nachhaltigkeitsstrategie des Landes und darüber, was passiert, wenn wir so weitermachen wie bisher.
der Vinschger: Herr Georg Kaser, wenn man mit Menschen spricht, die heuer vom Ortler zurückkommen, von der Weißkugel oder anderen Bergen, auf denen es vor Jahrzehnten noch große Gletscherfelder gab, stimmen alle darin überein, dass der Gletscherschwund noch nie so gravierend war wie heuer. Inwieweit ist diese Entwicklung auf den heurigen außergewöhnlich warmen Sommer zurückzuführen und inwieweit ist daran die allgemeine Erderwärmung „Schuld“?
Georg Kaser: Natürlich spielt der heurige, auch in der Höhe sehr warme Sommer eine große Rolle, noch mehr aber der sehr schneearme Winter. Das wird heuer sicher zu einem Rekordverlust an Eismasse auf unseren Gletschern führen. Wären die Gletscher allerdings gesund, dann würde sie das heurige Jahr zwar ein bisschen ins Schwitzen bringen, ihnen aber nicht allzu viel anhaben. Aber die Gletscher sind bereits sehr angeschlagen, eigentlich liegen sie bereits seit rund 20 Jahren in Agonie. Das zeigt sich vor allem auch am Eisverlust in den Gipfelflanken, dem Aufbrechen von Felsinseln allerorts und dem Ablösen der Zungen vom Oberteil der Gletscher. Alle diese Phänomene zeigen nicht nur den Verfall der Gletscher, sie beschleunigen ihn auch noch. Unsere Gletscher können im Klima der letzten 20 Jahre, wenn es anhält, nicht überleben. Nachdem wir das Erdklima aber weiter anheizen, wird das Verschwinden der Gletscher nur noch beschleunigt. Und ja, sowohl der bereits lange anhaltende Zerfall der Gletscher, als auch das immer wärmer und fallweise auch trockener werdende Klima in unseren Bergen ist das Resultat des menschgemachten Klimawandels, den wir weiter heftig vorantreiben.
Als Glaziologe und Klimaforscher warnen Sie schon seit Jahrzehnten vor den Folgen des Klimawandels. Haben wir überhaupt noch Zeit genug, das Schlimmste abzuwenden?
Die Frage ist, was das Schlimmste ist. Es passiert ja schon fast wöchentlich weltweit irgendwo und zunehmend auch bei uns in Europa und in den Alpen Schlimmes, verursacht durch den menschgemachten Klimawandel. Das wäre nur aufhaltbar, wenn wir sehr schnell nicht nur den Ausstoß an Treibhausgasen auf null bringen würden, sondern zudem so viel Treibhausgas aus der Atmosphäre holen würden, bis die Erde wieder deutlich unter den heutigen Wert von über 1,1°C über vorindustriellen Werten absinken würde. Danach schaut es derzeit überhaupt nicht aus. Das Einhalten des +1,5°C Zieles scheint täglich unrealistischer zu werden und ob wir uns in einer +2°C Welt einigermaßen einrichten können, ist sehr fraglich. Auch steigt mit jedem Zehntelgrad weiterer Erderwärmung bereits jetzt die Gefahr von Kettenreaktionen im Klimasystem. Das würde dann das für die Menschheit wohl Schlimmste, nämlich ihr Ende bedeuten.
Stimmt es, dass die Alpen im Vergleich zu anderen Gebieten stärker von der Erderwärmung betroffen ist? Wenn ja, warum?
Die Erderwärmung manifestiert sich nicht überall gleich stark. So erwärmen sich die Kontinente insgesamt deutlich stärker als die Ozeanoberflächen, wo viel Wärme in der Tiefe aufgenommen wird. Auch erwärmt sich die Arktis ganz besonders stark, die ist schon um mehr al 4°C wärmer geworden. Es scheint so, dass sich auch manche Gebirge stärker erwärmen als das umliegende Flachland. Es gibt aber im Gebirge deutlich weniger Messungen und in manchen Gebirgen ist das Phänomen nicht nachweisbar. Vermutlich sind die Abnahme der sonnenreflektierenden Schneedecke und die Massenerhebung per se die Gründe für Anomalien.
Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine scheint das Thema Klimawandel etwas in den Hintergrund geraten zu sein. Geht damit nicht kostbare Zeit verloren?
Zum einen ja, weil die internationalen Anstrengungen zum Klimaschutz stillstehen und viele Menschen zurecht unmittelbarere Sorgen haben, als den immer noch etwas abstrakt wahrgenommenen Klimawandel. Auch verursachen Kriegshandlungen an sich sehr große Emissionen an Treibhausgasen. Andererseits beobachten wir, dass viele Staaten den Umstieg auf sogenannte erneuerbare Energieträger stark vorantreiben. Auch wenn der Grund eine größere Unabhängigkeit von diktatorischen Regierungen ist, es käme längerfristig auch dem Klimaschutz zugute. Der Schutz von ebenso überlebenswichtigen Ökosystemen und die soziale Gerechtigkeit bleiben allerdings vorerst auf der Strecke.
Während halb Europa unter der Hitze stöhnt, großflächige Waldbrände wüten und Äcker und Felder austrocknen, gab und gibt es anderswo ungewöhnlich starke Regenfälle, zum Beispiel in Brasilien. Hängt das alles zusammen?
Ja, die Zunahme der Konzentration von Treibhausgasen führt zu einem Anstieg des Energieinhaltes im Klimasystem – derzeit heizen wir das Klima mit rund 0,9 Wm-2 weiter an – und nur ein kleiner Teil davon manifestiert sich in der Oberflächentemperatur. Unter anderem ändern sich Ozean- und Atmosphärenströmungen und das führt dann zu oft zeitgleichen, aber sehr unterschiedlichen Extremereignissen.
Viele Politiker predigen zwar, dass es 5 vor 12 Uhr ist und sofort gehandelt werden muss, aber in Wirklichkeit scheint vieles so weiterzugehen bis bisher. Wie bewerten Sie die derzeitige Situation in Südtirol? Was kann und sollte die Nachhaltigkeitsstrategie des Landes bringen?
Es ist lange schon 12 Uhr! Die Nachhaltigkeitsstrategie des Landes ist ja noch keine, die wirklich zu einschneidenden Maßnahmen führt, aber sie dürfte ein guter Ansatz sein. Sie muss sich aber danach ausrichten, was dringend zu tun notwendig ist, und nicht schauen, was machbar ist. Zu viele Interessensgruppen und deren Vertreter und auch die Verwaltung scheinen das aber noch nicht begriffen zu haben. Das führt zu starken Verzögerungen mit schlussendlich fatalen Folgen.
Was können die Gemeinden konkret tun und wir als Privatpersonen?
Es ist klar, dass wir unser gesamtes Gesellschaftssystem radikal ändern müssen hin zu einer Welt ohne Emissionen von Treibhausgasen, ohne Ressourcenverbrauch und in sozialer Gerechtigkeit. Das haben alle 3 Teilberichte des Weltklimarates IPCC klar gemacht. Es braucht wohl nicht viel Fantasie, was das im Einzelnen bedeutet. Es gibt keine andere Option. Bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien in unserem Land meine ich, dass Gemeinden eine zentrale Rolle spielen können und müssen. Dort empfinden die Menschen Verantwortung für ihr unmittelbares Umfeld.
Wann werden auf dem Reschenpass oder am Stilfserjoch Äpfel wachsen?
Am Reschenpass früher als am Stilfserjoch natürlich. Aber Spaß beiseite, zur
Apfelblüte am Stilfserjoch wird es nie kommen, da vorher das Klimasystem außer Kontrolle geraten würde.
Das Wasser wird auch bei uns in den Bergen immer knapper. Lässt sich das Problem mit dem Bau von Speichern lösen, speziell was die Landwirtschaft betrifft?
Speicher können viel, aber sie können Wasser nicht vermehren.