Am Podium (von links): Thomas Strobl, Martin Daniel, David Augscheller, Karl Trojer, Waltraud Plagg, Hans Rieder, Johann Gruber, Ulrica Kostner Goller, Josef Noggler, Hansjörg Kofler, Sven Knoll, Andreas Pöder und André Pirhofer.

Damit „politisch Umworbene“ zu „politisch Handelnden“ werden

Publiziert in 37 / 2008 - Erschienen am 22. Oktober 2008
Mals – Wann haben Landtagskandidaten schon Gelegenheit, sich so vielen Zuhörern zeigen zu können? Den 11 Kandidaten der 11 Parteien saßen etwa 550 Schüler der Sport­oberschule, Handels­oberschule und Lehranstalt für Soziales gegenüber. Nach der gängigen, aber umstrittenen „Polit-Schublade“ „links“ und „rechts“ hatten Deutschlehrer Thomas Strobl und Rechtskundelehrer Martin Daniel auch die Sitzordnung der Kandi­daten gewählt. Natürlich von den jungen Zuschauern aus gesehen. Die Mitte zwischen „Linke“ und „Rechte“ bildete die Spitzen-Kandidatin des Wahlbündnisses „Ladins“ und „Amisc dla Ladina Unida“, Ulrica Kostner Goller. Nach links vom Zuschauer aus folgten der Brixner Johann Gruber von der Di Pietro-­Partei „Italia dei Valori“, der Kandidat der „Bürgerbewegung“, Gründer und Sprecher der Ahrntaler Bürgerliste Hans Rieder, die Oberschullehrerin und Gemeinderätin in ­Schlanders Waldtraud Plagg für „Grüne/BürgerListeCiviche“, der gebürtige Vinschger Karl Trojer für die „Demokratische Partei Südtirol“ (PD) und links ­außen der Vertreter der „Linke für Südtirol“, der im Vinschgau aufgewachsene David Augscheller. Als rechts tendierend oder als rechts eingestuft wurden ab der Ladinerin Goller der Lokalmatador der Süd­tiroler Volkspartei, Josef Noggler, Hansjörg Kofler als Vertreter der „Lega-Nord Südtirol“, Sven Knoll, zweitplatzierter Kandidat der „Süd-Tiroler Freiheit“, Andreas ­Pöder, Kopf und Spitzenmann der „Union für Südtirol“, und rechts außen André Pirhofer, Bezirksjugendsprecher der „Freiheitlichen“. Da ein so beamtenhaftes Wort wie „Anhörung“ in Zeiten wie diesen nicht im „Trend“ wäre, nannte sich die Veranstaltung in der Aula des Malser Oberschulzentrums „Politiker-Hearing“. Sie war an Schüler der 3. und 5. Klassen aller Malser Oberschulen gerichtet und stellte nach den Einführungen in den Fächern Rechtskunde und Deutsch eine erste „heiße Phase“ des Projektes „Mit(B)stimmen. Politische Mündigkeit statt politische Müdigkeit“ dar. Eine zweite, bemerkenswerte Veran­staltung dürfte die „Schattenwahl“ am 25. Oktober sein. Alle „16 bis 17,99-Jährigen“ sind wahlberechtigt, werden in Wähler­listen eingetragen und er­halten einen Wahlausweis. Am Donnerstag, 30. Oktober wird als Höhepunkt politischer Oberschul-Bildung die „Elefantenrunde“ über die Bühne gehen. Die wirklichen Er­gebnisse der Landtagswahlen und die „Schattenergebnisse von Mals“ werden vorgestellt, analysiert und zusammen mit den Parteien- und Pressevertretern diskutiert. Eines de pädagogischen Ziele der „Malser Bildungs­offensive“ war, ­Schüler sollen sich „als politisch Umworbene und Handelnde begreifen“. Um möglichst breite Grundlagen für den Schattenlandtag der Malser Oberschüler zu legen, wurde den versammelten Schülern die Möglichkeit gegeben, den anwesenden Par­teienvertretern auf den Zahn zu fühlen und ihnen konkrete Informationen abzuringen. Für alle Fälle war ein Fragekatalog vorbereitet worden; außerdem standen Thomas Strobl und Martin Daniel bereit, unerbittlich gegen Redezeitüber­schreitungen vorzugehen. Nach einer kurzen Vorstellung mit mehr oder wenigen pointiert vorgetragenen Formulierungen der Kandidaten, marschierten die Schüler sofort auf jene Parteien los, die in ihrem Programm die Begriffe „Selbstbestimmung“ und „Ausländer“ führten: „Wie wollen Sie die Selbstbestimmung verwirklichen? Wie sie finanzieren? Geht es uns mit der Autonomie nicht ganz gut?“ Es ging weiter mit „Warum brauchen wir Ausländer? Warum muss man die SVP beleidigen? Erreicht die SVP die Mehrheit? Sind die Gehälter der Landtagsabgeordneten berechtigt? Gibt es eine Ausländerproblematik in Südtirol? Warum will die Lega die Selbstbestimmung mit den Italienern verwirklichen? Was sagen Sie, wenn sie mit der NPD verglichen werden? Ist Politiker sein nur ein Nebenjob? Woher haben Sie die Zahlenangaben zu den Ausländern in den ­Schulen? Warum kandidieren Sie überhaupt? Was halten Sie vom Postenschacher? Wer ist für Sie ein Ausländer? Wie können wir Familiengelder finanzieren, wenn wir die Steuern senken?“ Vor allem, um den „Rechtsdrall“ der Fragen einzudämmen, wurde den weniger involvierten Kandidaten Gelegenheit gegeben, auf Schwerpunkte einzugehen, die nicht angesprochen worden waren, wie Umweltschutz, Verkehr, Menschenwürde, Bildung, Bürgernähe, Familien­förderung, Arbeitsplätze, andere Minderheiten in Südtirol. Es traten die ­Schüler Lisa Agerer und Andreas Jochberger in Aktion, die aus ihrer „Fragesammlung“ aus­wählten. „Wie viel Geld geben Sie für Wahlwerbung aus? Bitte konkrete Zahlen! Wird durch das Pinocchio-Gesicht des Landeshauptmannes nicht der Politiker im Allgemeinen herabgewürdigt?“ Es folgte die Schreibaufgabe in Richtung Kaufkraft: „Wie viel kostet ein Liter Milch?“ Zwischen dem niedrigen M-Preis-Tarif und dem stattlichen Bio-Milch-Preis lagen die vorwiegend männlichen Landtagsaspiranten erstaunlich nahe an einem angenommenen Vinschger Durchschnitt von 1,20 Euro. „Wofür wird Ihrer Meinung nach zu viel oder zu wenige Steuergeld aufgebracht?“, war eine weitere Frage an alle Parteien. „Ergänzen Sie! Der Frosch am Kreuz ist…? Nennen Sie drei wichtige Maßnahmen für die Jugend! Ihre Einstellung zu den Verkehrsstrafen in Italien?“ Bis auf Ulrica Kostner wären alle Kandidaten dafür, dass der Vinschgerzug in die Schweiz verlängert würde. Bis auf Waltraud Plagg war niemand mit dem Zug angereist. Aus der Höhe des Lehrstuhls und kraft seiner Position schwang Moderator Strobl die Bildungskeule, wollte einen Lieblingsautor wissen und ob der die jeweilige Partei ­wählen würde. Schließlich wurden die Kandidaten aufgefordert, eine Partei zu nennen, die sie nach der eigenen am ehesten wählen würden. Ulrica Goller würde Grüne/BürgerListe­Civiche, Josef Noggler und Andreas Pöder die Ladins, Hansjörg Kofler die SVP, Sven Knoll die Freiheitlichen, André Pirhofer die Süd-Tiroler Freiheit oder die Union ­wählen. Für David Augscheller wie für Karl ­Trojer wären die Grünen wählbar. Johann Gruber könnte sich die Bürgerbewegung vorstellen. Hans Rieder möchte nach den Wahlen allen Parteien unter die Augen treten. Den eigentlichen Abschluss bildete die im neutral gefärbten, verschlossenen Kuvert abgegebene Prognose zur Landtagswahl. Kommentar Der berühmte Schuss nach hinten Es gab eine kurze, aber bezeichnende Episode im „Politiker-Hearing“ der Malser Oberschüler, die es verdient, erwähnt und kommentiert zu werden. Deutschlehrer ­Thomas Strobl konnte es sich nicht verkneifen, den Kandidaten an den „literarischen Puls“ zu greifen und nach einem Lieblingsautor zu fragen. Darauf wurden klingende Namen genannt. Bert Brecht musste herhalten, Hermann Hesse war dominant, sein „Siddharta“ wurde als Lieblingslektüre erwähnt. Rainer Maria Rilke und Franz ­Kafka wurden vorgeschoben, aber auch Leonardo Sciascia und sogar Jules ­Verne. Man outete sich aber auch als „Lesemuffel“. Jemand hatte keinen Lieblingsautor oder gab unumwunden zu, in der Oberschule kein Buch gelesen zu haben und so lange zu warten, bis ein gutes Werk verfilmt wurde. Sie alle könnten sich im „Videoclub“ treffen, lautete der Kommentar des Moderators. Das junge Publikum schien die Antwort des Unbelesenen aber als „cool“ zu empfinden und reagierte mit Szenen­applaus. Darauf habe ich mich gefragt, ob nicht eines der vier in den Projektunterlagen aufgelisteten, pädagogischen Ziele tatsächlich erreicht worden ist, das da lautet: „Sie (die Schüler) sollen zu einer bewussten und reflektierten aktiven Teilnahme an politischen Entscheidungsfindungsprozessen auf allen Ebenen befähigt werden.“ Ich vermute, die Frage nach literarischer Kompetenz könnte wirklich einen Entscheidungsprozess oder vielmehr einen Solidarisierungsprozess ausgelöst haben, aber in eine andere Richtung als erwartet. Wenn sich überhaupt jemand etwas erwartet hatte. Wie auch immer. Nicht denen wurde applaudiert, die sich durch „sämtliche Hesse-Bände“ gelesen hatten, sondern denen, die in die „ungebildete Ecke“ gestellt worden waren. Günther Schöpf
Günther Schöpf
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