Architektur zwischen Spiel und Zwang
Publiziert in 5 / 2006 - Erschienen am 8. März 2006
Glurns – Was sind die Konstanten in der Architektur? Wo liegt das Spezielle eines Ortes? Wie weit darf die bauliche Entwicklung gehen? Was ist nützlich und was stört? Diese und weitere Fragen standen am 23. und 24. Februar im Mittelpunkt von Referaten, Begehungen und Diskussionen in Glurns. An die 40 Architekten, Planer, Geometer, Bauherren, Handwerker, Lehrer, Kulturinteressierte und Mitglieder von Baukommissionen nahmen an der „Baustelle 06“ im Glurnser Rathaus teil. Organisiert wurde diese erstmalige Veranstaltung, der bis 2015 zehn weitere folgen sollen, vom Kulturverein „arcus raetiae“. Zu den Hauptreferenten gehörten die Architekten Gion A. Caminada aus Vrin in Graubünden und Carl Fingerhuth aus Basel. Das Thema lautete „Architektur zwischen Spiel und Zwang“.
Die „Baustelle“ ist ein grenzüberschreitendes „Experiment“ und das jüngste Kind von „arcus raetiae“. Präsident Konrad Meßner erinnerte in seiner Begrüßung an das Architektursymposium im Jahr 2000. Einen besonderen Dank richtete er an die Partner der „Baustelle 06“. Es sind dies die Abteilung Deutsche und Ladinische Berufsbildung, die Abteilung Natur und Landschaft, die Abteilung Hochbau und technische Dienste, die Europäische Akademie (EURAC) und der Künstlerbund Bozen. Die Abteilungsdirektoren Peter Duregger (Berufsbildung) und Roland Dellagiacoma (Natur und Landschaft) sowie auch EURAC-Präsident Werner Stuflesser begrüßten die Initiative. „Wir haben viele beliebige und austauschbare Bauten in der Landschaft herumstehen. Auf besondere Begebenheiten und auf ortsgerechtes Bauen wird oft wenig Wert gelegt,“ sagte Dellagiacoma. Er erinnerte auch daran, dass Gion A. Caminada im Landesbeirat für Baukultur und Landschaft vertreten ist, den die Landesregierung erst kürzlich mit dem Ziel eingesetzt hat, die architektonischer Qualität und die landschaftliche Einbindung vor allem größerer Bauten zu verbessern.
In seinem Einführungsreferat sprach der mehrfach ausgezeichnete Architekt Gion A. Caminada, der als einer der Hauptvertreter der aktuellen Schweizer Baukultur gilt, zum Thema „Differenzen aus den Konstanten des Ortes“. Mit Konstanten seien unter anderem die Stetigkeit, die Beharrlichkeit und die bauliche Tradition eines Ortes gemeint sowie auch die Topographie, die Kultur, das Klima und die lokalen Ressourcen, wobei gleichzeitig aber auch Kontinuität und Entwicklung gewährleistet sein sollen. Eines der Probleme sei das Verschwinden der Vielfalt. „Die Dörfer gleichen sich und werden zu Stereotypen.“ Lokale Identitäten seien wichtig. Wenn die Identität schwindet, mache sich Unsicherheit breit. Die Konstanten eines Ortes bilden die Basis für eine neue Architektur. Als „Differenzen“ bezeichnete Caminada die „aktiven Beziehungen“ zu gegebenen Elementen und Eigenheiten. „Zu viele Differenzen können das Ganze aber auch untergraben,“ warnte der Architekt.
Der Raumplaner Carl Fingerhuth, der von 1979 bis 1992 Kantonsbaumeister von Basel-Stadt war, seit 1992 ein eigenes Büro für Städtebau in Basel betreibt und seit 2001 als Honorarprofessor für Städtebau in Darmstadt in Deutschland tätig ist, sprach über „gesellschaftspolitische Strategien“. Anhand von vier Beispielen zeigte er die Wechselwirkung zwischen Spiel und Zwang im Städtebau und in der Ortsplanung auf. Carl Fingerhuth riet zu einem sorgfältigen Umgang mit gegebenen Strukturen. Städteplaner und Architekten sollten das sich verändernde Bewusstsein der Menschen ernst nehmen und auch akzeptieren, dass eine Stadt komplex und widersprüchlich ist. Weiters gelte es, das Spezielle eines Ortes zu suchen und zuallererst die Struktur einer Stadt oder Dorfes anzuerkennen. „Eine große Stadt sollst du führen wie du kleine Fische brätst,“ zitierte Fingerhuth den chinesischen Denker Laotse. „Wir müssen als Architekten wieder bescheidener und kreativer werden,“ forderte Fingerhuth, „denn dann sind wir eine Berufsgruppe, die nützlich ist, und nicht eine, die stört.“
Als konkretes Fallbeispiel für das Aufspüren und Erkennen von Konstanten und örtlichen Gegebenheiten und zugleich auch als Arbeitsfeld für die Entwicklung neuer Potenziale, Ideen und Zukunftsvisionen dienten den „Baustelle 06“-Teilnehmern die Stadt Glurns und das aufgelassene Militärareal vor der Stadt. Die Stadt Glurns wurde bereits am ersten Tag genau erkundet. Auch eine Wanderung auf den Tartscher Bühel wurde unternommen.
Am zweiten Tag wurde intensiv gearbeitet. Im Mittelpunkt stand unter anderem die Entwicklung von Szenarien anhand der „Baustelle Militäraraeal“. Benno Agreiter aus Bruneck, Student an der ETH Zürich (Eidgenössische Technische Hochschule) referierte zum Thema „Das Bild hinter dem Bild“.
Am Ende der zweitägigen Veranstaltung waren sich alle Beteiligten einig: Die baukulturelle Identität einer Landschaft kann weder von oben herab erzwungen werden, noch kann sie ohne Zutun von unten herauf spontan entstehen. Sie ist immer eine Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Spiel und Zwang und muss von der breiten Bevölkerungsschicht getragen werden. Gion A. Caminada äußerte deshalb auch mehrfach den Wunsch, künftige „Baustellen“ auf eine breit gefächerte Teilnehmergruppe auszudehnen, in denen Handwerker, Wirtschaftstreibende, Landwirte usw. vertreten sind. „Denn Landschaft wird nicht vom Architekten gebaut“, erklärte Caminada, „sie ist das Produkt der Geschichte und Tradition von uns allen.“
Die Moderation der „Baustelle 06“ hatte Chasper Pult übernommen. Er ist seit dem Herbst 2001 als Romanist an der Bündner Kantonschule in Chur tätig sowie auch im Bereich der Kulturvermittlung.
Danke zollte Konrad Meßner auch dem Glurnser Bürgermeister Erich Wallnöfer und seinem Stellvertreter Elmar Prieth, den Hausherren der Veranstaltung.

Josef Laner