„In der Entfaltung gehemmt“
Wie leben und erleben Kinder und Jugendliche die Pandemie? Hartmann Raffeiner: „Vieles, was schon vor der Krise nicht gut war, tritt jetzt noch stärker zu Tage.“
Naturns - Seit zwei Jahren führt der junge Psychologe und Sexualberater Hartmann Raffeiner eine Privatpraxis in seiner Heimatgemeinde Naturns. Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie vor über einem Jahr ist er nahezu täglich mit Problemen, Ängsten und Unsicherheiten konfrontiert, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind.
der Vinschger: Herr Hartmann Raffeiner, das Coronavirus hat uns seit über einem Jahr fest im Griff. Was hat die Pandemie aus der Sicht Ihrer täglichen Arbeit als Psychologe und Sexualberater mit den Kindern und Jugendlichen gemacht?
Hartmann Raffeiner: Wir haben es im Grunde mit einer Verlusterfahrung zu tun. Es wird abgesagt, vertagt, verboten, vorgeschrieben. Es gibt von allem weniger. Die Tendenz vieler Jugendlicher, sich von der Gesellschaft zurückzuziehen und die Teilnahme am öffentlichen Leben zu vermeiden, gab es schon vorher. Seit dem Ausbruch der Krise hat sich diese Tendenz verschärft. Die Vereinsamung nimmt zu. Nicht wenige haben sich noch mehr zurückgezogen und es geht gesellschaftlich allgemein in die Richtung, dass jeder für sich selbst lebt. Das Vertrauen junger Menschen in die erwachsene Gesellschaft ist weiter geschrumpft. Wenn die Zuversicht, die Hoffnung und der Halt verloren gehen, liegt es auf der Hand, dass Wut, Angst und Depression zunehmen. Erschwerend dazu kommt, dass viele junge Menschen aufgrund der Einschränkungen kaum Möglichkeiten haben, einander wirklich zu treffen. Das ist besonders in einer Phase, während der sich viele zum ersten Mal verlieben und erste sexuelle Erfahrungen machen, problematisch. Die gegenseitige Annährung war schon bisher nicht einfach und ist jetzt noch schwieriger geworden.
Worunter leiden junge Menschen infolge des Eingesperrtseins am meisten?
Was ihnen offensichtlich fehlt, sind die sozialen Kontakte, die in ihrem Alter für die Entwicklung entscheidend sind. Die allgemeine Kontaktarmut, die es in unserer Gesellschaft schon vor der Krise gab, hat sich dramatisch verstärkt. Mit Kontakt meine ich nicht nur das Reden, sondern vor allem auch den Kontakt im eigentlichen Sinne des Wortes als Berührung, als Augenkontakt, als „miteinander sein“. Wir leben derzeit in einer Ersatz-Welt: vieles wird ersetzt, aber neu aufgebaut wird kaum etwas. Nehmen wir nur das Beispiel der Maske her: wenn wir außer Haus gehen, ist unser Gesicht zur Hälfte verdeckt. Auch bei Videokonferenzen ist ein echter Augenkontakt nicht gegeben, wir schauen uns nicht direkt an. Eine lockere Kommunikation wie im „normalen“ Leben ist über Computer und Handy so gut wie unmöglich. Wenn man einander gut kennt, kommt man auch mit Videokonferenzen einigermaßen zurecht. Was aber fehlt und was vor allem bei neuen Bekanntschaften und Begegnungen unersetzlich ist, sind das Lebendige und das unmittelbar Echte des Kontaktes. Wir brauchen das, das ist tief in unseren Genen drin. Soziales Leben ist älter als die Menschheit selbst. Was den jungen Menschen dadurch abgeht, ist, dass sie kaum Herausforderungen bzw. Möglichkeiten haben, selbst etwas zu verwirklichen, etwas zu unternehmen oder sich auszudrücken. Dabei ist das besonders für Buben und junge Männer sehr wichtig, um später sicher und gefestigt zu sein. Man muss selbst etwas probieren, Fehler machen, anstoßen, Grenzen „testen“ und ausreichend Erfolg haben.
Wie bewerten Sie die bisherigen Maßnahmen der Politik gegen die Bekämpfung der Pandemie?
Diese Frage kann ich nur hinsichtlich der psychischen Auswirkungen beantworten. Die Kommunikationskultur ist jedenfalls beeindruckend schwach. Die Politik lässt nur wenig Planbarkeit zu. Zudem haben wir ein Problem der Hierarchie, denn politisch beschlossene Maßnahmen haben zu einem Oben-gegen-unten-Konflikt geführt, weil sie zum Teil offensichtliche Lücken in der Umsetzung aufweisen. Es hat sich gezeigt, dass die üblichen politischen Strategien aus den Zeiten vor der Pandemie nicht gut wirken. Wir sehen alle, dass es Unstimmigkeiten gibt, die auch mit Lobbyismus und Bevorzugung zu tun haben. Das untergräbt weiter den Zusammenhalt. Eine Krise verlangt eine Neuordnung, die uns stärker macht. Von einer wirklichen Veränderung ist derzeit aber kaum etwas zu sehen. Im Gegenteil, man hält an den üblichen Strukturen fest und auch an den Unsinnigkeiten, die damit zusammenhängen. Den Kindern und vor allem Jugendlichen fällt das auf. Sie fühlen und sehen, dass da vieles nicht zusammenpasst. Das fördert natürlich das Misstrauen, das Desinteresse und die Verzweiflung. Worauf sollen sie sich verlassen?
Bei politischen Treffen und auch in den Medien stehen im Zusammenhang mit Corona vor allem die wirtschaftlichen Folgen der Krise im Fokus. Geht die Jugend unter? Ein Gemeindearzt sagte mir kürzlich, dass wir der Jugend ein ganzes Jahr gestohlen hätten.
Die Trennung zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen ist künstlich. Es gibt keine richtige Wirtschaft ohne ausreichende Gesundheit der Bevölkerung. Sicher ist, dass uns die psychischen Folgen lange beschäftigen werden. Das hat man bereits bei der Infektionskrankheit SARS gesehen, mit der CoVid-19 eng verwandt ist. Bei Jugendlichen ist das Problem noch größer, weil sich die verpassten Erfahrungen nicht so einfach nachholen lassen. Es gibt im Leben der Menschen „Fenster“ von einigen Jahren, in denen man bestimmte Erfahrungen besser, sagen wir natürlicher machen kann als davor oder danach. Das sind Phasen, während denen man sich normalerweise verliebt, Abenteuer unternimmt oder Herausforderungen in Angriff nimmt. Corona zieht da natürlich einen schmerzhaften Strich durch die Rechnung. Der Jugend wurde in diesem Sinn nicht ein Jahr gestohlen, sondern es wurde ihre Entwicklung empfindlich gestört. Das Jahr ist ja vergangen, aber wie? Es wird schwere Folgen haben, die es - so gut es geht -aufzufangen gilt. Damit ist schon jetzt zu beginnen und nicht erst „nach Corona“.
Wie kommen junge Menschen mit der Flut von Zahlen, Informationen und Falschnachrichten rund um Corona zurecht?
Ich sehe viel Frustration, die dann nicht selten in Resignation und Vermeidung übergeht. Eigentlich müssten junge Menschen an den Erwachsenen beobachten, wie damit sinnvoll umgegangen werden kann. Das sehen sie aber kaum, weil auch bei vielen Eltern die Richtung fehlt. Viele Menschen drehen sich im Kreis. Bereits vorhandene Schwächen in den Familien kommen drastischer zur Geltung. Krisen sind auch Lupen: sie bringen unsere Eigenschaften verstärkt zum Vorschein. Das zeigt sich beim Einzelnen, in den Familien und auch in Einrichtungen wie der Schule.
Sind die sozialen Netzwerke in Zeiten wie diesen so etwas wie ein Problemlöser?
An sich nicht, denn sie lösen das Problem Corona nicht. Aber sie sind in ihrem Einfluss verstärkt worden, sie nehmen noch mehr Zeit und Platz ein als zuvor. Auch hier stellt sich die Frage der Nutzung: womit umgebe ich mich? Mit wem tausche ich mich aus? Die Art, wie ich mich im Netz bewege, fußt auf Eigenschaften und erlernten Verhaltensweisen. Das Ergebnis richtet sich dann danach. Man kann das Internet auf kreative und erbauliche Weise nutzen, oder dafür, Zeit totzuschlagen oder sich weiter zu frustrieren. Das geschieht aber meistens nicht zufällig, sondern hat mit der eigenen Persönlichkeit und den eigenen Erfahrungen zu tun. Jugendliche entwickeln das alles erst und sind daher besonders anfällig. Sie sind insgesamt zu sehr allein, auf vielen Ebenen ihres Lebens.
Eine Mutter hat mir während des ersten Lockdowns erzählt, dass sich ihre 5-jährige Tochter nicht mehr aus dem Haus traute, „weil draußen das Virus“ ist. Wie ernst sind solche Äußerungen zu nehmen?
Solche Aussagen sind auf jeden Fall ernst zu nehmen. Kinder brauchen ausreichende Orientierung, damit sie eine angemessene Vorstellung davon haben, was ein Virus ist und wie es funktioniert. Damit haben aber auch viele Erwachsene Probleme, auch weil es um exponentielle Entwicklungen geht. Es fällt uns Menschen prinzipiell nicht so leicht, uns das vorzustellen. Was ich bei Kindern oft beobachte, ist entweder eine Überforderung mit Informationen, die in den Inhalten und in der Sprache zu „erwachsen“ sind, oder ein Fernhalten der Kinder vom Thema nach dem Motto „Nicht die Kindheit zerstören“. Gesund ist weder das eine noch das andere. Die Krise ist real, die Kinder spüren das und sie brauchen ausreichende Klarheit.
Ist davon auszugehen, dass diese Krise langfristige „Narben“ bzw. Folgen in der Seele von so manchen Kindern und Jugendlichen hinterlassen wird?
Ja, und zwar bei vielen. Ob eine Narbe bleibt, hat damit zu tun, welche Möglichkeiten zur Verarbeitung bestehen. Deshalb ist jetzt anzusetzen und Unterstützung zu bieten. Es braucht gute Netzwerke zwischen Eltern, Schulen, Jugendeinrichtungen, Vereinen und Experten aus dem Gesundheitswesen. Eine erfolgreiche und sinnvolle Initiative hat zum Beispiel der Jugenddienst Meran gemeinsam mit seinen Partnern mit dem Projekt „Red mor amol driber …“ gestartet, für das ich auch tätig bin.
Was können Eltern tun, um die Krise zusammen mit den Heranwachsenden möglichst gut zu bewältigen?
Wichtig ist es, Rituale und Strukturen zu bieten. Das gemeinsame Essen zum Beispiel ist sehr wichtig. Die Belastung der Eltern sollte dabei nicht weitergegeben werden. Da muss man gewissermaßen über sich selbst hinauswachsen, die Krise auch als Auftrag sehen und nicht im eigenen Leid versinken. Eltern brauchen aber natürlich oft selbst Unterstützung, denn auch hier sind Netzwerke und Hilfsangebote nötig. Unsere Kinder brauchen einerseits Verlässlichkeit und anderseits Raum, sich auszudrücken. Da fehlt mir bei den Erwachsenen oft das Einfühlungsvermögen und die persönliche Stärke, ihnen Halt zu geben.
Was kann die Schule tun und was wir alle?
Die Schule muss mehr denn je verlässlich sein. Regelmäßigkeit und Klarheit tragen zur Sicherheit und zur Orientierung bei. Es braucht Momente, in denen miteinander Themen wie Angst, Trauer, Wut usw. zur Sprache kommen und behandelt werden, denn das fördert den Zusammenhalt. Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass Schule größer zu denken ist. Die Schule ist als Ort der menschlichen Entfaltung zu sehen, und nicht nur als Ausbildungsstätte oder als „notwendiges Übel“, bevor man erwachsen wird. Die Corona-Krise bietet die Chance, sich eine große Reform zuzutrauen. Diese muss aber von den Lehrerinnen und Lehrern selber kommen. Viele sind nicht mehr überzeugt davon, wie es derzeit in ihren Schulen läuft. Es braucht Mut und es braucht eine umfassende Vision davon, was Schule heutzutage eigentlich sein kann und soll. Die Herausforderungen an uns alle sehe ich darin, dass wir uns nicht verschließen, sondern Beziehungen pflegen, so gut es geht, vor allem regelmäßig. Gute Beziehungen sind der Schlüssel für die Lösung vieler Probleme, wobei das Unlösbare zumindest erträglicher wird. An der Krise können wir wachsen, helfen wir uns gegenseitig dabei.