Gastkommentar - Ok, Boomer: Nichts ist ok.
Vinschgau - Wir checken es einfach nicht. Zeitgenossen und -nössinen, die (so wie ich selbst) den prägendsten Teil ihrer Sozialisation in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchlebt haben, leiden an einer dramatischen Beeinträchtigung ihrer Wahrnehmung. Das heißt, sie selbst leiden eigentlich gar nicht, sie delegieren das lieber – wie so vieles Andere – an ihre Mit- und Nachwelt: Sie (= wir) können die Uhr nicht lesen, bzw. sie (= wir) können oder wollen einfach nicht begreifen, was es geschlagen hat.
Man könnte Entlastungsgründe dafür anführen: Zeit unseres Lebens war es ja permanent „fünf vor zwölf!“: die letzte Ölquelle würde jeden Moment versiegen, der saure Regen würde im Handumdrehen jedes Grün wegätzen, durch das Ozonloch würde uns die Sonne bald die Ohrwascheln versengen, dabei bliebe uns auch noch die Luft weg, wenn nur erst der ganze Regenwald abgeholzt wäre, dazu der suizidale Rüstungswahnsinn, der Rinderwahnsinn, der drohende Super-GAU… Und das Allerwahnsinnigste an all dem apokalyptischen Wahnsinn: Es wurde nie wirklich zwölf, alles easy, Damen und Herrn, nix is gschehn… Meinten wir jedenfalls.
Wir stolperten ja traumtänzerisch von der einen Loveparade in den nächsten All-you-can-eat-Ressort, schoben uns bei Wining and Dining immer elaboriertere Kreationen in immer blasiertere Münder, machten bei Vernissagen weltläufige Insider-Visagen und kauften uns ein satt glänzendes Image aus immer schlankeren Handys, immer dickeren SUVs und immer schickeren Städte-Trips zusammen: Die fetten Neunziger sollten niemals, niemals enden, auch wenn es sie so nie hätte geben dürfen. Die immer rascher aufeinander folgenden und eigentlich nie endenden, sondern beständig ineinandergreifenden und einander potenzierenden Krisensituationen der 2000er Jahre machen unübersehbar: Unsere vermeintlich gut geölte Maschinerie des Turbo-Kapitalismus war schon die ganze Zeit über völlig von der Rolle und neben der Spur und es ist nur mehr eine Frage der (absehbaren) Zeit, dass sie gegen die finale Wand knallt. Wir haben auf Pump gelebt, unseren Kreditrahmen rücksichtslos überstrapaziert. Natürlich gab es da schon immer diese sauertöpfischen Spaßbremsen und Bedenkenträger, die uns mit ihren Warnungen vor den Folgen unsere stampfende Konsum-Party miesmachen wollten. Die ließen sich aber noch jedes Mal locker durch formlosen Mehrheitsbeschluss und mit einigen beliebigen Worthülsen vom Tisch wischen: die Arbeitsplätze, der Lebensstandard, der Fortschritt, der Wettbewerb!
Jetzt aber müssten endlich auch wir zur Kenntnis nehmen, dass schon seit je ein Player aus einer ganz anderen Liga mit am Spieltisch gesessen ist, der uns nun unbestechlich und unaufschiebbar die Rechnung aufmacht. Die kaum noch abwendbare Klimakatastrophe sollte auch der unverfrorensten Spielernatur klarmachen, dass unsere „Umwelt“ unbeirrbar nach ihren eigenen Regeln spielt und uns keine Tricksereien mit gezinkten Karten durchlässt.
Drei skizzierte Beispiele aus Schlanders und Umgebung, angeordnet nach aufsteigender Breitenwirkung zeigen aber, dass von einem wirklichen Umdenken und „Um-Handeln“ noch keine Rede sein kann:
Die angekündigte Asphaltierung des Radwegs Laas-Schlanders. Dass die Versiegelung des Bodens in vielerlei Hinsicht ein Problem ist, gehört längst zum kleinen Einmaleins der Umweltpolitik; dass geteerte Radwege mit Gefälle eine eventuelle Gefährlichkeit eher erhöhen denn lindern, benötigt wenig Vorstellungskraft (man denke an das Zusammenwirken von höherer Geschwindigkeit mit Verunreinigungen und oder Nässe/erstem Frost auf Asphalt bei geringer Fahrpraxis vieler Nutzer*innen). Trotzdem hält man an dem Projekt fest, redet es nach ersten Protesten auf „wenige Abschnitte der Strecke“ klein und überlässt den bestehenden Radweg dann sich selbst. Die einsamen „Lavori in corso“-Schilder rosten über wachsenden Schlaglöchern, Spurrillen, Schotterhäufen dahin. Früher oder später wird dann der von langer (untätiger) Hand herbeigeführte „untragbare Zustand“ dem um das Wohl der Gäste besorgten Bezirkspräsidenten erlauben, seine ungeduldige Baggerbrigade auffahren zu lassen, um die Gefahr in Verzug wacker abzuwehren und saubere Verhältnisse zu schaffen.
Die Tiefgarage im Kapuzineranger wird der ungläubig bangenden Bevölkerung zuerst effektvoll als Schreckensszenario präsentiert, um dann großmütig-heldenhaft abgeschmettert und mit einem vermeintlich leichter zu schluckenden Ersatzprojekt unter dem Krankenhaus-Parkplatz konterkariert zu werden, weil man „der Wirtschaft“ solidarisch im Wort stehe.
Eine Wirtschaft, die sich als freies Unternehmertum begreift, reagiert auf kommende Verhältnisse. Der motorisierte Individualverkehr gehört nicht dazu. Tiefgaragen sind in naher Zukunft Karkassen einer ausgestorbenen Art, wer sie heute fordert, plant und (mit Steuergeldern) finanziert, ist ein zumindest fahrlässiger Ruinenbaumeister.
Das Projekt zum „leistbaren Wohnen“ am Kasernenareal. Der gewachsene Baumbestand soll gefällt werden. („Uns doch egal!“) Die bestehenden Gebäude sind im Kern gesund und architektonisch reizvoll und ausbaufähig. („Vergiss es!“) Der einzigartige Bestand aus Natur und Architektur könnte Basis für ein zukunftsträchtiges Leuchtturmprojekt des Forschens, Lernens, Wohnens, Gestaltens, schlicht: des Lebens sein. („Um halb fünf geht’s los, wichtig ist es, in kurzer Zeit so viel wie möglich abzureißen!“)
„Leistbar“, Boomer, dieses Wort sollten wir uns sehr gut durch den Kopf gehen lassen. Schließlich haben wir uns als Generation schon einiges geleistet und wenn wir unsere vorläufige Bilanz als „durchwachsen“ bezeichnen, betreiben wir Schönfärberei. Uns bleiben aber noch einige Jahre als „Leistungsträger“, auch an den Hebeln der Macht, und Tag für Tag können wir durch unser Tun und Nicht-Tun darüber bestimmen, wie, ja ob wir erinnert werden.
Die Party ist vorbei, Boomer, die Eltern kommen zurück. Wir sind die Eltern.
Thomas Strobl, Schlanders, 20.10.2022