Zwei beeindruckende Bilder aus dem Buch.
Zwei beeindruckende Bilder aus dem Buch.
Heinrich Fliri (links), KVW-Bezirkspräsident Vinschgau, mit der Autorin Veronika Oberbichler und Charly Brunner, KVW-Bezirkspräsident Pustertal, bei der Buchvorstellung „Wir brechen das Schweigen“.

„Endlich hört uns jemand zu!“

Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ist ein weitverbreitetes Verbrechen. Es betrifft Schule, Kirche, Freizeit, Sport – und die Familie.

Publiziert in 18 / 2023 - Erschienen am 10. Oktober 2023

Schlanders -  Im Buch „Wir brechen das Schweigen“ von Veronika Oberbichler und Georg Lembergh  haben Betroffene erstmals ihr eigenes Schweigen gebrochen. Veronika Oberbichler aus dem Pustertal ist Psychologin und Psychotherapeutin, systemische Supervisorin, Coach und freie Schriftstellerin. Georg Lembergh, freischaffender Fotograf und Filmemacher, war der Fotograf und Ideengeber zum diesem Buch, das im Raetia-Verlag erschienen ist. Kürzlich wurde das Buch in Schlanders vom KVW-Bezirk Vinschgau im Beisein der Autorin Veronika Oberbichler und des Pustertaler KVW-Bezirksvorsitzenden Charly Brunner im Nikolaussaal des Bürgerheims von Schlanders vorgestellt.

Wir müssen genauer hinschauen
„Das Buch ‚Wir brechen das Schweigen’ verleiht zum ersten Mal einer Gruppe von betroffenen Menschen eine kraftvolle Stimme. Es sind neun Menschen, die aus allen Teilen des Landes kommen, aus unterschiedlichen Schichten, Alters- und Sprachgruppen. Und mitten unter uns haben sie sexuellen Missbrauch erlitten“, sagte Charly Brunner. Er dankte der Autorin für das Buch, das mit hoher Sensibilität in das Thema sexuellen Missbrauch einführt. „Die einfühlsamen Gespräche der Psychotherapeutin und Autorin sind geprägt von Respekt und Verständnis. Das Buch soll vor allem Betroffenen Mut machen, das lähmende Tabu und die Scham zu überwinden. Und es soll bewirken, dass in der Gesellschaft genauer hingeschaut, besser hinterfragt und betroffenen Kindern und Jugendlichen Glauben geschenkt wird“, schreibt Georg Lembergh in seinem Vorwort im Buch. Seine knapp 30 Portraitaufnahmen im Buch zählten zu den anspruchsvollsten Aufgaben seiner Berufslaufbahn, da er die betroffenen Menschen zwar anonym, aber dennoch ästhetisch ansprechend darstellen wollte. Was ihm auch gelungen ist! Sehr wertvoll im Buch ist auch ein Gespräch mit der Kinder- und Jugendanwältin Daniela Höller. Sie berichtet über ihre Erfahrungen und ruft auf zur Meldepflicht bei Missbrauchsverdacht. Ein besonderes Augenmerk legt die Autorin Veronika Oberbichler auf die Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern nach einem  sexuellen Missbrauch, auf Therapiemöglichkeiten für die Betroffenen, Beratungsstellen und die wichtigsten zuständigen Anlaufstellen.

Die Schatten früherer Kindheit
Die Schwierigkeit über Missbrauch zu sprechen sei typisch, so die Autorin. Nur maximal jedes fünfte Kind suche Hilfe bei seinen Eltern. „Kinder haben ein Urvertrauen, und glauben, das Gegenüber tut ihnen nichts Böses. Zudem können sie das Geschehene für sich nicht einordnen und haben auch keine Sprache dafür. Nur ein Schutzmechanismus der Psyche ermöglicht das Überleben der Übergriffe“, sagte Veronika Oberbichler. Auf die Frage, wieso man mühevoll verheilte Wunden nach vielen Jahren wieder aufbrechen soll, bestätigt die Autorin, wie erleichtert und befreit sich Betroffene zeigen, wenn sie sich endlich jemandem anvertrauen können. Jahrelang schweigen Betroffene, weil ein Vergessenwollen oder Nicht-wahrhaben-Wollen der traumatischen Inhalte ihnen zunächst Schutz und Entlastung bieten. Aber diese trügerische Sicherheit führt mit der Zeit zu einem großen emotionalen und körperlichen Dilemma. „Ich hatte immer das Gefühl, die ganze Schuld und die ganze Scham liegen auf mir“, lässt die Autorin eine betroffene Frau sagen.

Schweigen schützt die Täterschaft
Täter oder Täterinnen verstehen es, zu manipulieren. Sie tun es bewusst und geplant. Sie schüchtern ihr Opfer ein und bedrohen es, bestätigt auch Charly Brunner, der Direktor im Südtiroler Kinderdorf ist und weiß, wovon er spricht. „Man kann die Kinder nicht absolut schützen, aber man kann Risiken benennen und offen über Dinge reden. Und ganz wichtig ist die Prävention. Es darf keine Neutralität geben bei Missbrauchsfällen; man muss sich eindeutig und vorbehaltslos an die Seite der Betroffenen stellen und den Namen des Täters oder der Täterin nennen“, so Brunner. Das sei früher nie passiert, alles wurde unter den Teppich gekehrt. Missbrauchserfahrungen greifen über Generationen, und man habe nie gehört, dass Täter strafrechtlich verfolgt worden wären.

Studie „Traces“ vorgestellt
Über die Studie „Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Vinschgau“ berichtete Sissi Prader, langjährige Leiterin des Frauenmuseums Meran und Projektpartnerin der Studie.“Nicht aufgearbeitete Traumata können vererbt werden: sie hinterlassen Spuren in der Familie und in der Gesellschaft“, so Sissi Prader. Ziel der Studie sei es, die Weitergabe von Traumata aufzuzeigen, sie zu unterbrechen und zu verstehen, welche Folgen sexualisierte Gewalt für Betroffene und ihre Nachkommen haben kann. Deshalb möchte die Studienleiterin Andrea Fleckinger mit den betroffenen Frauen, ihren Töchtern und ihren Enkelinnen sprechen (Infos unter www.forum-p.it).

Ingeborg Rainalter Rechenmacher
Ingeborg Rainalter Rechenmacher
Vinschger Sonderausgabe

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