50 Jahre Südtirol-Autonomie
Was hat sie gebracht und was kann sie noch bringen?
Schlanders - Bibliothekar Raimund Rechenmacher hat zu Herbstgeschichte(n) geladen und ein originelles Format gewählt, um Südtirols Autonomie unter die Leute zu bringen. Rechenmacher hatte spezielle Zeitzeugen vorgeladen. Martha Stocker (Kematen), eine ehemalige Landesrätin, sollte den historischen Rahmen abstecken. Franz Bauer (Goldrain), ehemals Regionalassessor, Armin Pinggera (Schlanders), ehemals Senator in Rom, Robert Kaserer (Tschars), ehemals Landtagsabgeordneter, waren Zeitzeugen der „Paketschlacht“ von 1969. Bruno Pileggi (Mals) war exakt 1972 als Finanzpolizist nach Südtirol gekommen. Pietro Zanolin (Mals) ist sozial engagiert unterwegs. Zusammen mit einem versierten Vinschger Publikum garantierten sie einen abwechslungsreichen bis aufwühlenden Abend in der Mittelpunktbibliothek. Ausschlaggebend für die Qualität des Abends, der phasenweise in Italienisch verlief, war als Moderator Patrick Rina. Den Sohn eines Sizilianers und einer Vinschgerin kennt als Fernsehjournalist jeder Bergbauer in Südtirol. Rina beherrscht auf hohem Niveau die zwei größten Landessprachen. Er sah in der Veranstaltung eine Möglichkeit, unter Einbezug des Publikums eine Art Denkwerkstatt zu schaffen. Seine erste Frage: Was ist für Sie Autonomie? Dazu führte „im Galopp“ (Rina) Stocker durch die letzten 100 Jahre Südtiroler Geschichte vom Pariser Vertrag und die 1. Autonomie 1948 über das „Los von Trient“ 1957 bis zum Gang des „kleinen Österreichs“ vor die UNO. Die Feuernacht wurde zur „Büchse der Pandora“ erklärt und ausgeklammert. Mit Verspätung erreichte Landtagspräsidentin Rita Mattei (Lega) die Bibliothek. Franz Bauer, damals bei der SVP Jugend, erinnerte an die Vinschger Skeptiker. Für ihn sei der Handschlag Magnago-Brugger entscheidender gewesen. Die knappe Mehrheit der Paket-Annehmer habe den Auftritt in Rom erleichtert. Armin Pinggera habe zwar Polarisierung gefühlt, aber auch Zeichen gesehen, dass man einen Abschluss erreichen könnte. Robert Kaserer erzählte von einer spannungsgeladenen Stimmung, von gegenseitigem Beschimpfen als Verräter und von der deprimierenden wirtschaftlichen Situation im Lande. Für Bruno Pileggi war die Autonomie die Möglichkeit zu kommunizieren, sich auseinanderzusetzen über die Realitäten des Lebens. Pietro Zanolin hatte Südtirol verlassen und einen Arbeitsplatz im Ausland gesucht. Laufend ergänzte und erweiterte Stocker die Ereignisse aus historischer Sicht, zeichnete die Parteienlandschaft zwischen Demokratie und Kommunismus nach und hob die Bedeutung verschiedener Persönlichkeiten hervor wie Berloffa, Riz, Mock, Moro und später Andreotti. Aber der Vater der Autonomie sei Silvius Magnago. Kaserer erinnerte an das Recht, die Muttersprache zu verwenden. Ob der ethnische Proporz heute noch aktuell sei, entfuhr es kurz dem Moderator. An das Publikum: War es damals die richtige Entscheidung? Für Rita Mattei auf jeden Fall. Für einen Besucher Grund genug, auf diese Autonomie stolz zu sein. Andere Stimme: Das Zusammenleben funktioniert. Was nicht funktioniert, ist die Politik. An Pinggera: War die Versöhnung das Ausschlaggebende? Man konnte aufbauen und weiterbauen. Bauer: Durch die Autonomie, die wir annehmen mussten, haben wir uns blühend entwickelt. Stocker: Unser Glück war, nicht die Fraktionierung wie die Slowenen in Kärnten gehabt zu haben. Rina: Historiker Hans Heiss habe eine „demokratische Immunschwäche“ in der SVP ausgemacht. Kaserer: Wie auch immer, die Sammelpartei hat sich weiterentwickelt und ist erfolgreich geblieben. Rina: Mit SVP wird nicht nur die Autonomie, sondern auch die Macht assoziiert. Bürger aus Schlanders: Die Autonomie gehört nie einer Partei. Heute erkennt man die Vorteile der Region. Bürgerin italienischer Muttersprache aus Schlanders: Es ist höchste Zeit, dass sich was ändert. Wir müssen abgehen von der Sprachgruppenzugehörigkeit hin zu den Fähigkeiten. Rina: In welche Richtung soll es denn gehen? Zanolin: Den Proporz abschaffen. Pinggera: Bitte nicht das Bad mit dem Kinde ausschütten. Das Recht, die Sprache zu wählen, ist ein großer Fortschritt. Bürger aus Schlanders: Die deutsche Sprache geht verloren. Der Trend ist unüberhörbar. Eine Italienerin, die sich zur „Destra“ bekennt: Hier im Vinschgau habe ich noch nicht den kleinsten Versuch gemerkt, die Italianitá zu erhalten. Die Schulen werden geschlossen, die Italiener müssen abwandern, während die Deutschen alles unternehmen, um bis zu den höchsten Höfen die Schulen zu erhalten. Turbolenzen. Zurufe von allen Seiten. Ein junger Mann, halb Südtiroler, halb Friulaner bedauerte, die deutsche Sprache nicht zu verstehen, weil man ihn im deutschen Kindergarten nicht geduldet habe. Er zeichnete ein düsteres Bild des Friulanischen, das am Verschwinden sei, weil der Proporz fehle. Rina: Wo sollen Südtirol und die Autonomie in 50 Jahren sein? Kaserer: Die eigene Sprache ist ein erhaltenswertes Kulturgut. Pinggera: Sieht die Abwanderung der Italiener im Frequentieren der deutschen Schulen. Bauer: Mit einer geschützten Muttersprache. Martha Stocker erinnert: Die Autonomie haben wir nicht bekommen, weil wir so schön sind, sondern weil wir eine andere Nationalität sind als das Staatsvolk. Wenn wir demnächst nicht wirkliche Bürger Europas werden, sehe ich große Probleme auf uns zukommen.