Worte zum Nachdenken

Publiziert in 21 / 2004 - Erschienen am 5. November 2004
Hier folgt auf Bitten von Zuhörern/innen der erste Abschnitt des 4. Teiles des Referates im Rahmen der Gesundheitswoche in Schlanders: Seelenpflege – Persönlichkeitsbildung. Jeder Mensch möchte etwas taugen und als Persönlichkeit eine gewisse Anerkennung finden. Es gab eine Zeit, wo Tugenden viel galten und die Eltern aus ihren Kindern tugendhafte Menschen machten. Die letzten Jahrzehnte waren nicht tugendfreundlich. Die Tugend verkam zur Karikatur. Schließlich dichtete man spöttisch: "Die Tugend von manch forschem Mädchen hängt nur an einem morschen Fädchen." Es fehlte nicht viel, und ein Mensch mit "Tugend" galt als "schiefgewickelt" und fast als lebensuntüchtig. Die Umgangssprache ("Tugendkalb", "Tugendtrottel" oder "Tugendmeier") verbindet mit Tugend eher die Worte "sittenstreng, brav und folgsam, übertrieben sittsam, unfroh". – Es bahnt sich allerdings eine Wende an. Der tugendhafte Mensch gilt wieder und wird sogar beneidet. Gar mancher bedauert,dass er ein Mensch ohne Tugenden ist und zum Taugenichts geworden ist, der der öffentlichen Hand zur Last fallen muss. Der bedeutende Theologe Romano Guardini klagte schon um 1930 darüber, dass das Wort Tugend manchen Menschen fremd, altmodisch und sogar unsympatisch vorkomme. Er wies auch auf den Wandel hin, den das Wort im Laufe der Geschichte erfahren hat und schrieb: "So war für die Griechen Tugend die Wesensart des edel gearteten und wohlgebildeten Menschen. Für die Römer bedeutete Tugend (virtus) die Festigkeit, mit welcher der vornehme Mann in Staat und Leben stand; das Mittelalter verstand unter "tugent" die Art des ritterlichen Menschen..." – Der echte Tugendbegriff meint das richtige Verhalten. Wir sehen im ehrlichen und anständigen Typ einen Menschen, der etwas taugt. Ein Mensch mit Tugend hat Zeit für andere, er kann zuhören und man bittet ihn kaum vergeblich um Hilfe. Er ist geradlinig und freundlich, höflich und zuvorkommend. Man sieht in ihm das Beispiel für ein rechtschaffenes Leben und den rechten Weg. Zu den Tugenden gehören die sehr geschätzten Alltagstugenden wie Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Anspruchslosigkeit, Höflichkeit, Opfersinn und recht verstandener Gehorsam. Der Mensch mit Tugenden ist nicht etwa ein Wesen, das immer funktioniert, wie die Autoritäten es wollen. Der sinnlose Drill war nie gut und ist es auch heute nicht. Echte Tugenden sind Lebenshilfen; dazu zählen unter anderem auch die Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeitssinn, die Hilfsbereitschaft, die Zufriedenheit, die Liebe zum Schönen und auch die Nächstenliebe. Wer all diese Charaktereigenschaften sich aneignet, hat einen hohen Tugend-grad erreicht und ist ein vortrefflicher Mensch, der überall taugt und zu brauchen ist wegen seiner Tüchtigkeit. Gefragt ist nicht nur die Tüchtigkeit und Brauchbarkeit des Menschen, sondern vor allem sein hohes Ethos. Tugend ist eine Fertigkeit, die durch ausdauerndes Üben erworben wird. Man könnte den Vergleich mit einem Flötenspieler oder einer Konzertpianistin wagen. Sie werden Könner und zur Künstlerin durch beständiges Üben. Die Musikerkarriere kann nur beschritten werden, wenn der Mensch zielstrebig ist und täglich mit seinem Instument übt. Jeremias Gotthelf sagt: "Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland". Heute wird von den Eltern, den Schulen und allen anderen Institutionen für die Tugend und das rechte Verhalten zu wenig geworben. Wenn in der Öffentlichkeit nur der schlaue Mensch und seine "Schlaubergerei" als erstrebenswertes Vorbild hingestellt wird, und der gelobt wird, der den Staat betrügt und nur Vorteile herausholt, dann erscheint das ehrliche und rechte Verhalten nicht als erstrebenswertes Ziel fürs Leben. In einer Zeit der Maßlosigkeit hat es die Tugend des Maßes schwer. Nach 1968 brach eine große Krise der Autorität über die westliche Welt herein. Es wurden nicht nur die unnötigen Zöpfe abgeschnitten, sondern auch das wertvolle Gut des menschlichen Strebevermögens wurde mies gemacht. Immer brauchen die Menschen das Viergespann der Kardinaltugenden: Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Maß. Die neuen Tugendbilder sind ebenfalls notwendig, wie das Benzin fürs Auto: Zivilcourage, Wahrhaftigkeit, Friedensbereitschaft, Vorurteilslosigkeit, Kollegialität, Diskretion, Rücksicht, Aufmerksamkeit und Offenheit.
Dekan Josef Mair

Diese Seite verwendet Cookies für funktionale und analytische Zwecke. Lesen Sie unsere Cookie-Richtlinien für weitere Informationen. Durch die Nutzung dieser Website erklären Sie sich damit einverstanden.

Close