Wie klein ist zu klein?
Hubert Messner spricht über die Faszination Frühgeburt und über die Grenzen der Neonatologie.
Schluderns - Es saßen Mütter im Publikum, deren Kinder als Frühchen auf die Welt gekommen sind, und auch Frühchen, die schon längst erwachsen sind und die Hubert Messner als Kinderarzt ins weitere Leben gerettet hat. Rund 15.000 Frühchen hat Messner während seiner Tätigkeit als Kinderarzt in Toronto und London, vor allem aber in der Neonatologie-Abteilung in Bozen behandelt. Am 9. September war er zusammen mit dem Mitautor Lenz Koppelstätter in das Kulturhaus nach Schluderns gekommen, um sein Buch „Der schmale Grat – Als Arzt und Abenteurer zwischen Leben und Tod“ (Ludwig Verlag) vorzustellen. In einfacher Sprache, mit kurzen Sätzen, viel Empathie und großer Ehrlichkeit zeichnet Messner im Buch sein Leben nach: von der völligen Freiheit, in der er mit seinen 8 Geschwistern im abgeschlossenen Villnößtal aufgewachsen ist, über die ersten „Strukturzwänge“ und Erfahrungen der Freiheitsberaubung im Johanneum und im Vinzentinum bis hin zu seiner medizinischen Laufbahn, seinen Grenzabenteuern mit seinem Bruder Reinhold, seiner Pensionierung und seiner Entscheidung, auf Anregung von Lenz Koppelstätter eine Biographie zu schreiben. Lenz Koppelstätter, 1982 in Südtirol geboren und aufgewachsen, arbeitet in Berlin für verschiedene Medien und ist derzeit u.a. als Krimiautor tätig. Er hatte Hubert Messner kennengelernt, als dieser Kuppelstätters Sohn, der als Frühchen auf die Welt gekommen war, behandelte. „Lenz hat mich bei der Entstehung des Buches gefördert und gefordert“, sagte Messner.
Arzt und zugleich Vater
Als Schlüsselereignis als Arzt und zugleich als Vater schilderte er die Zeit, als sein Sohn Alex, der bei der Geburt 1.200 Gramm wog, fast in seinen Händen verstarb. Alex ist mittlerweile selbst Neonatologe „und tritt am kommenden Montag in Innsbruck seine Arbeit an“, kündigte Messner an.
Zwischen Panik und Rationalität
Rückblickend auf die Frühgeburt von Alex gestand er, zum Teil außerstande gewesen zu sein zu handeln, „bis die Panik wich, die Rationalität zurückkam und ich als Arzt wieder funktionierte.“ Im Zwiegespräch zwischen Lenz und Hubert und auch bei der anschließenden Diskussion tauchte eine der wohl größten Fragen auf, die sich nicht nur Neugeborenenmediziner stellen, sondern auch betroffene Eltern und die Gesellschaft insgesamt: Gibt es Grenzen in der Neonatologie? Hubert Messner stellte die Frage noch klarer: „Wie klein ist zu klein?“ Im zweiten Kapitel des 224 Seiten umfassenden und auch mit Bildern ausgestatteten Buches schreibt Messner: „Die derzeitigen Ziele in der Neonatologie sind die Weiterentwicklungen der Überlebenschancen bei Geburten in der 22. und in der 23. Schwangerschaftswoche. Ich persönlich bin keineswegs überzeugt, ob das tatsächlich der richtige Weg, das richtige Ziel ist. Heute überleben nur 20 bis 40 Prozent der in diesen Wochen geborenen Kinder, und diese Überlebenden haben ein sehr hohes Risiko einer Beeinträchtigung.“
Wo wird die Grenze sein?
Er frage sich: „Wo wird irgendwann die Grenze sein?“ Laut Messner gehe es nicht nur um das Überleben, sondern auch darum, Lebensqualität zu garantieren. „Die Technik kann nicht alles und soll auch nicht alles können.“ Die Arbeit als Kinderarzt und Neonatologe habe ihn vor allem deshalb stets begeistert und motiviert, „weil ich etwas bewirken und gestalten konnte. Das macht den Sinn des Lebens aus.“ Mit „Sterben“ ist das erste Buchkapitel überschrieben. Darin schildert Messner, wie unter seinen Händen zum ersten Mal ein Kind starb. „Der Tod fühlt sich nie gut an“, sagte er. Als Arzt brauche man in solchen Fällen jemanden, „der dich auffängt.“
„Kinder dürfen sterben“
Den Umgang mit dem Tod kann man nicht lernen, jenen mit dem Sterben schon: „Kinder dürfen sterben. Ärzte müssen lernen, sterbende Kinder zu begleiten.“ Dazu braucht es Kraft. Mit betroffenen Eltern müssen die Ärzte reden, sie müssen für sie da sein. Hubert Messner, geboren 1953, war aber nicht nur ein Kinderarzt aus Leidenschaft, der für die Kleinsten und Zerbrechlichsten alles gab und der in Bozen die Neonatologie-Abteilung gründete und diese als Chefarzt zu einer der besten Europas ausbaute, sondern auch ein großer Abenteurer. So begleitete er seinen Bruder Reinhold nicht nur mehrere Male als Expeditionsarzt in den Himalaja, sondern unternahm mit ihm auch außergewöhnliche Gratwanderungen, z.B. die Durchquerung von Grönland oder die Nordpol-Expedition. Auch über diese und andere Abenteuer schreibt er im Buch.
Das Wissen um die eigenen Fähigkeiten
Wie sich die „Leidenschaften“ Arzt und Abenteurer verbinden lassen bzw. einander nicht beißen, brachte Hubert Messner mit wenigen Worten auf den Punkt: „Wissen um die eigenen Fähigkeiten.“ Wer als Kind frei sein darf, entwickelt Eigenverantwortung und Vertrauen. Auch Kinder in der Frühchenphase entwickeln Fähigkeiten, um die sie wissen und die ihnen später nützlich sind. Im Gegensatz zu früheren Zeiten sei die Freiheit vieler Kinder heutzutage stark eingeschränkt bzw. genau strukturiert: „Dürfen oder können Kinder heutzutage überhaupt noch auf einen Baum klettern?“ Den Willkommensgruß in Schluderns hatte zum Auftakt des gut besuchten Abendes die Gemeindereferentin Sonja Abart überbracht, die allen Mitveranstaltern dankte, speziell der Bibliothek und deren Leiterin Dagmar Strimmer.