Südtiroler Auswanderer in Bad Grund

Publiziert in 40 / 2014 - Erschienen am 12. November 2014
Erinnerungen an schwere Zeiten Bad Grund/Vinschgau - 1940, eine Schule im Harz, die Lehrerin: „Wie alt bist du eigentlich, Josef?“ Der Schüler: „Nein!“ Lehrerin: „Sag uns bitte wie alt du bist.“ Der Schüler: „Nein“. Da tobt die Lehrerin vor Wut, Josef zuckt erschrocken zusammen, die ganze Klasse brüllt vor Lachen. Josef ist neun („nein“) Jahre alt, er ist eben mit seiner Familie aus Südtirol hierher nach Bad Grund ausgewandert. Er spricht nur im Dialekt des oberen Vinschgaus, kommt aus der faschistisch-italienischsprachigen Schule und muss jetzt Hochdeutsch lernen. Er und seine gleichaltrigen Südtiroler beginnen wieder als Erstklässler. Einmal fragt die Lehrerin, wer denn im Klo das Wasser nicht gezogen habe. Schweigen in der Klasse, aber alle meinen zu wissen, dass es die Südtiroler waren. So oder ähnlich erzählen es die ehemaligen Mitschüler. 1939, die 245.000 deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler hatten die „freie“ Wahl zwischen Bleiben im minderheitenfeindlichen Mussolini-Italien oder Auswandern nach Hitler-Deutschland. Über diese „Option“ ist viel geschrieben und geklagt worden. Bestimmt stand man vor einer dramatischen Entscheidung, doch kam es in den Kriegswirren schließlich nicht zu einem Exodus biblischen Ausmaßes. Kein Trost auch, dass es noch größere Tragödien gab, Vertreibung, Verfolgung, Versklavung, Völkermord, Millionen Tote. Holocaust, Gulag, Abessinien, Armenier,...Von den 213.000 „Optanten“ wanderten tatsächlich nur 74.000 aus, und nach dem Krieg konnten sie, zwar gegen Widerstände, doch meist wieder zurück. Die Geschichte der Südtiroler im Harz Die Geschichte der Südtiroler im Harz ist jedoch eine andere, konfliktfreie. Sie beginnt 1938, also noch vor dem Hitler/Mussolini-Umsiedlungsabkommen. Die Tiroler wurden als Bergarbeiter von den „Reichswerken AG Hermann Göring“ angeworben, die hier massiv Eisenerze für die Kriegsrüstung abbauen ließen, dazu Kalk zur Verhüttung. Hermann Göring, bei Kriegsende ein fataler Name! Die Alliierten hätten die Werke in die Luft gesprengt, wäre das nicht durch die Belegschaft und die Persönlichkeit des technischen Leiters Dr. Börner abgewendet worden. Die Kalkwerke bestehen heute noch. Dr. Hans Börner, Dipl. Bergbau-Ing., war 1938 aus dem Marmorwerk Laas im Südtiroler Vinschgau nach Deutschland zurückgekommen und hatte aus Laas die ersten Fachkräfte nachkommen lassen. Fachkräfte aus Laas geholt Er schätzte die Tiroler und warb dann weitere Arbeiter aus den Optantenfamilien an, die meisten aus dem Vinschgau. Die Namen: Alber, Asam, Baldauf, Dietl, Eberhard, Eberhöfer, Fischer, Eller, Flader, Fleischmann, Folie, Hütter, Klotz, Köllemann, Kurz, Marth, Nigg, Pichler, Platzer, Pohl, Pöhli, Rinner, Saurer, Saxalber, Schwalt, Sailer, Spechtenhauser, Stecher, Stieger, Theiner, Theis, Trafoier, Tragust, Wallnöfer, Wegmann, Ferner: Egger, Forer, Hofer, Baumgartner, Lengauer, Laimer, Kuprian, Niedermair, Passler, Reich, Stadler, Scheiber u.a.. Neue Siedlung für die Zugezogenen Für diese hunderte Zugezogenen bauten die „Werke“ in schöner Lage über Bad Grund die heute denkmalgeschützte „Hermann Göring“- bzw. „Südtiroler“- oder „Iberg“-Siedlung: 48 Fachwerkhäuser mit 96 Wohnungen, alle mit Bad, mit Garten und Kleinviehställen („halbländlich“), dazu ein Gemeinschaftshaus, später noch eine katholische Kirche. In ihrer verlassenen Heimat hatten die neuen, faschistischen Herren italienische Betriebe angesiedelt, dazu italienische Arbeiterfamilien in für sie gebauten „ Semirurali“- Siedlungen („halbländliche“) in Bozen und Meran/Sinich. Die in Bad Grund angekommenen Tiroler standen dort nicht, wie viele „Optanten“ andern Orts, mit Kind und Kegel vor dem Nichts. Für sie mussten keine Einheimischen verdrängt werden. Und nicht alle wollten „heim ins Reich“, viele hat die Not vertrieben. Wie von den vertrauten Bergen ausgestoßen, so wird erzählt, zog man bangend zum ersten Mal über den Brenner, hinab in das immer breiter und flacher werdende Inntal, die Berge im Rücken immer kleiner, dann durch die schier endlose niederbayerische Ebene, wo das Auge keinen Halt mehr findet, dann nach zwei Tagen doch am Horizont so etwas wie ein Gebirge, Tannenwald, der Harz. Schließlich in einem offenen, kleinen Tal das Städtchen Bad Grund, fremdartige Fachwerkhäuser, eine nur lutherische Kirche, die Sprache wohl deutsch und doch eigentlich fremd. Die Gruppe wuchs irgendwann in Solidarität zusammen, wie in der Diaspora. Auch mit den Einheimischen nach anfänglichen Eifersüchteleien wegen der schönen Wohnungen, wie erzählt wird. Noch fünf Senioren von der Einwanderer-Generation Heute leben von der Einwanderer-Generation noch fünf Senioren in der Iberg Siedlung: Die Tanten Nigg, Edmund Eberhöfer, er hatte es bis zum Vorsitzenden des Kalkwerke-Verwaltungsrates gebracht, und Hans Trafoier. Zu den Südtiroler Treffen, zum ­Törggelefest u.ä. kommt der Hans mit der Ziehharmonika und beschwört gerne den Mythos von der fernen Heimat herauf. In den Bergwerken mussten bis 1945 Kriegsgefangene aufgenommen werden, Russen, Polen, Belgier, Franzosen u.a.. Auch italienische „Badoglio-Soldaten“ seien in Bad Grund gewesen, ab Kriegsende dann bis zu ihrer Entlassung Anfang 1946 unter der englischen Besatzung. Gehörten sie zu jenen 600.000 von der Wehrmacht im Herbst 1943 aus Italien und vom Balkan nach Deutschland gebrachten Gefangenen? Einer von ihnen verliebte sich da in ein hübsches Südtiroler Mädchen, nahm aber die Hochschwangere nicht mit sich nach Italien. Sie erfuhr erst am Bahnhof, dass er zu Hause Frau und Kinder hatte und blieb allein zurück. „Wos isch waltsch?“ Allein am Bahnhof, mit dem Köfferchen in der Hand. Und bald auch mit dem „walschen“ Kind. „Mama, wos isch waltsch, und wos hobn die Leit gegn mir?“ Bad Grund, 2.300 Einwohner, teilt heute das Schicksal mit anderen historischen Kurorten. Leicht angerostete Schilder an den schön restaurierten Fachwerkfassaden mancher Gästehäuser lassen es erahnen. Immerhin, es gibt ein Gesundheitszentrum im 1929 erbauten Städtischen Kurbad, am Iberg den Heilklima-Stollen und eine Tropfsteinhöhle mit Erlebniszentrum, das Arboretum mit exotischem Baumbestand, ein Bergbaumuseum im aufgelassenen Knesebeck-Schacht, das Uhrenmuseum und zwei Dutzend Gästehäuser. Und am Zwergenkönig-Hübich-Felsen den jährlichen Klamauk in der Walpurgisnacht mit den Hexen. Die schwirren auf ihren Besen vom nahen Brocken herbei, wo sie schon zu Goethes Zeiten gehaust haben. Einige auch vom fernen Schlern her zu ihren heimatfernen Südtirolern. Anna Nigg/Paul Preims

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