Wir können nur versuchen zu verstehen

Publiziert in 45 / 2014 - Erschienen am 17. Dezember 2014
75 Jahre nach dem unseligen 1939 hat sich der Vinschger nicht an den Satz entnervter Kriegsteilnehmer, Eltern, Groß- und Urgroßeltern gehalten: Hört endlich auf, immer wieder anzufangen! Er hat wieder angefangen. Vinschgau - Er hat angefangen, Zeitzeugen zu befragen, die 1939 zwischen 10 und 19 Jahre alt waren. Neun Latscher und ­Marteller, die damals nicht wahlberechtigt waren, versuchten sich zu erinnern. Sie sind Kinder der 197.800 von 230.000 Südtirolern, die „deutsch“ optiert haben, der 70.000, die tatsächlich ausgewandert sind, und der 30.000, die von sehr vielen der 197.800 Optanten als Verräter, als „Walsche“, angesehen wurden. Die neun Schicksale können nicht stellvertretend für die Schicksale der vielen, noch lebenden Zeitzeugen im Vinschgau betrachtet werden. Auch wurden sie nicht ausführlich genug behandelt. Es sollte aber ein weiterer Versuch sein, über Option zu reden und daran zu erinnern, dass es ohne die Dableiber, die Verräter, die nach 1945 still gehalten und Versöhnung ermöglicht haben, kein Südtirol und keine Südtiroler mehr gegeben hätte. Alle wurden zu Verrätern Noch immer, auch 75 Jahre nach der Option, gibt es in Südtirol kein öffentliches Denkmal, an dem „walsche Volksverräter“ und „deutsche Heimatverräter“ gemeinsam des unseligen Jahres 1939 gedenken könnten. Volksverräter wurden alle jene genannt, die bis zum 31. Dezember 1939 nicht im „Feirtagwond“, im Festtagskleid, zum Gemeindeamt gegangen sind und auf dem orange-roten Zettel für Deutschland optiert haben. Als Heimatverräter galten die, die „der Heimat nicht die Treue gehalten haben“ und mit ihrer Unterschrift Andreas Hofer und seine Helden verraten haben. „Weil so viele für Deutschland optierten, wusste man genau, wer nicht gekommen war oder wer sich versteckte“, erzählt ­Josef Raffeiner, Jahrgang 1920, aus Latsch. „Das Dorf war in Blöcke eingeteilt und der Blockleiter hatte dafür zu sorgen, dass der ganze Block an einem bestimmten Tag zum Optieren ging. Es wurde wie ein Festtag gehalten und war bestens organisiert. Danach wurden die Dableiber so richtig ‚seggiert‘ (geneckt).“ Raffeiner war Maturant am bischöflichen Seminar „Johanneum“ in Dorf Tirol und hatte sich zu Hause mit seinem Vater immer wieder über die politische Lage ausgetauscht. Für ihn – er war noch nicht 21 – und seine Familie hat der Vater für Deutschland optiert. Zum ersten Mal von der Option gehört habe man im Juli 1939, erinnerte sich Raffeiner. „Die Menschen sind aus allen Wolken gefallen im ersten Moment. Dann hat man sich gesagt: Der Hitler wird uns schon heimholen und mit uns das ganze Land. Propaganda hat‘s noch nicht gegeben. Die hat erst eingesetzt, als der Kanonikus Gamper eine ‚Mords­propaganda‘ dagegen begonnen hat. Er hat ja nicht für Italien geworben, er hat aufgerufen, sich nicht zu rühren, überhaupt nicht zu wählen.“ Dasselbe sagt auch Alois Holzknecht vom Unter­stadelhof in Martell und zitierte den Kanonikus: „Wir werden uns mit der italienischen Schlampigkeit leichter tun als mit der deutschen Gründlichkeit“. Wie Raffeiner war Holzknecht 1920 geboren und hat ebenfalls die Oberschule in Dorf Tirol besucht. Zum Unterschied von Raffeiner gehörte Holzknecht aber zu den Dableibern. 98,1 Prozent der 2.960 Latscher hatten fürs Umsiedeln optiert, 56 waren fürs Bleiben. In Martell waren es 93,6 Prozent von 1.175 gegenüber 75 Dableibern. Besonders die Marteller Fraktion Waldberg mit den Höfen Niederhof, Oberhof und Unterstadelhof zeigte sich äußerst resistent gegenüber der intensiven Propaganda des Völkischen Kampfringes Südtirol (VKS). „Die Versammlungen der wenigen Dableiber fanden heimlich in irgendeiner Mühl‘ statt“, erzählt Meinrad Holzknecht, dessen Vater auf dem Niederhof für Italien optiert hatte. Meinrad war im Optionsjahr erst 15, aber ihm und seinen älteren Geschwistern blieben die Gewissenskonflikte der Eltern nicht unbemerkt. Von Nordtirol aus habe man seinen Vater Peter, bis 1914 Notlehrer in der kleinen Volkschule auf Niederhof, informiert. In jedem Brief stand geschrieben: „Bleibt, wo ihr seid!“. Das Nazi-Märchen „Immer haben wir das Optieren vor uns hergeschoben“, erzählt sein Vetter Alois. „Kurz vor Heiligabend hat der Vater dann den weißen Zettel für Italien unterschrieben. Wir haben vom Kanonikus zu viel gehört, auch über die Konzentrationslager. Und wir haben uns auch mehrfach vergewissert, dass die Geschichte mit der Umsiedlung nach Süditalien oder gar nach Abessinien ein Märchen, ein Nazi-Märchen war, das die Deutsch-Optanten aufgebracht hatten.“ Der Journalist Friedl Volgger persönlich habe ihm versichert, die Frage „oi oder ausi“ stelle sich nicht. Öffentlich festgelegt – heute würde man sagen geoutet – hat sich Holzknecht bei einer Versammlung der Optanten in Rona (Hof in Waldberg). „Da habe ich einem fanatischen Goldrainer die Meinung gesagt. Schließlich waren mir Hitlers ‚Mein Kampf‘ und Alfred Rosenbergs ‚Der Mythus des 20. Jahrhunderts‘ schon bekannt. Diese Gedanken sind mir aber nie hinuntergegangen.“ Wie haben die Optanten reagiert? „ Es hat gehässige Parolen gegeben. Zu Neujahr haben sie uns mit ‚Buon giorno‘ begrüßt.“ Auf Niederhof wurde ein Hausaltar von einem jungen Optanten in den Abort geworfen. „Die Waldberger wurden natürlich zu Außenseitern“, erzählt Antonia Perkmann, die 1924 auf Rona geboren ist. Die wache 15-Jährige versuchte alles aufzunehmen, was Erwachsene besprochen haben. „Gesprochen wurde viel und zu jeder Zeit“, weiß die Stricker Tona zu berichten. „Ich weiß noch genau, wie unser Vater gekommen ist: ‚Stellt euch vor, jetzt müssen wir wählen‘, hat er gesagt, ‚walsch oder deitsch‘. Er war ein überzeugter Deitscher. Dass aber so viel Hass zwischen den Kindern der Dableiber und der Optanten entstehen konnte, war vielfach den Erwachsenen zuzuschreiben“, stellt Perkmann fest. Sie selbst erinnert sich noch, wie ihre Tante aus Latsch verzweifelt zur Mutter gekommen sei. Weinend hab sie ihr gestanden, dass ihr Mann auswandern, sie aber bleiben wolle. Oder nach einem Marktgang mit ihrer Mutter nach Schlanders sei man einem Witwer begegnet, der ebenfalls unter Tränen der Mutter sein Leid geklagt habe, mit fünf kleinen Kindern auswandern zu müssen. „Die Mama hat ihn getröstet. Bleib einfach, hat die Mama gesagt, vielleicht kommt alles ganz anders.“ „Ihr habt keine Ahnung“ Viele Tränen vergossen und schwer am Heimweh gelitten hat auch Rosl Kerschbaumer, 1925 in Tarsch geboren. Ihrer Familie – der verwitweten Mutter, dem späteren Ziehvater und vier Geschwistern – Rosl war 14, die Brüder 16, 11 und ein Jahr, die Schwester 10 – war auf dem Weg in die Gegend von ­Mährisch ­Ostrava (Tschechei), ein Zwischenaufenthalt in Innsbruck ermöglicht worden. „Wir waren in einem Riesenhotel untergebracht“, erinnert sie sich, „ und ich habe gereart und gereart und wollte einfach nur nach Hause. Sie seien als Fremde angesehen worden. „Ein Teil (der Einheimischen) hat die Südtiroler gar nicht gemocht“, erinnert sie sich. „Wir mussten erst die Leute fragen, wie man auf Deutsch ‚Gelati‘ sagt. Ich hatte keine einzige Schulstunde in Deutsch besucht.“ Von Innsbruck wurden sie kurzzeitig nach Igls gebracht. Danach zog die Großfamilie weiter nach Bischofs­hofen. Dort heiratete Mutter Maria ihren zweiten Mann, Engelbert Pedross. Die Schwester Traudl wurde geboren. Der ältere Bruder Ernst bekam Arbeit in Hallein und die inzwischen 16 Jahre alte Rosl kam zu einer Metzgerfamilie. „Sie haben mich behandelt wie das eigene Kind“, berichtet sie und erzählt, wie sie, das zierliche Mädchen aus Tarsch, mit der Tochter des Hauses das Schlachthaus führte. „Niemand kann sich das vorstellen….“ Optiert, sich auf die Umsiedlung vorbereitet und dann doch in Latsch geblieben ist die Familie von Klara Auer, geboren 1929. Mit der Zehnjährigen hat niemand über die Option geredet, aber sie hat sehr genau registriert, was sich in der Latscher Kugelgasse im Winter 1939/1940 tat. „Vater wollte unbedingt noch einen Kasten mit Stellagen anfertigen lassen, um ihn mitnehmen zu können. Wir hatten sonst kaum Möbel im Haus“, erzählt Klara. Die Mutter sei gegen das Auswandern gewesen; zu sehr habe sie am Vieh im Stall gehangen. In der Freizeit nahm Klara an den Treffen der „Piccole Italiane“ teil. Dafür bekam man einen schwarzen Rock zugeteilt. Am Moos, damals Viehmarktplatz und so etwas wie der erste Sportplatz in Latsch, musste man dann an den faschistischen Feiertagen aufmarschieren. Verheiratet mit Hans, dem ältesten der fünf „Bartl-Buben“ in Latsch, wohnt sie heute „auf dem Moos“. Hans war im Entscheidungsjahr 16 Jahre alt und der einzige in der Familie, der einige Lire ins Haus brachte. Er „nagelte Steigen“ beim Sägewerk Fuchs. Seine Brüder verdingten sich „auf Kost“ bei verschiedenen Bauern. Der Vater war in Schulden geraten, weil er sein Haus umgebaut und auch noch für andere Bürgschaft geleistet hatte. Die siebenköpfige Familie musste zwischen 1933 und 1949 zehn Mal Wohnung wechseln. Hans Tscholl Senior sah die Lösung in der Auswanderung. Mama Cäcilia war strikt dagegen. „Unser Vater glaubte, im Ausland einen Hof zu bekommen, den er dann endlich mit uns Buben gemeinsam bearbeiten wollte. Über die Option haben wir so gut wie gar nicht geredet“, erzählt Hans, Jahrgang 1923. Dafür hatte er auch nicht sehr viel Zeit. Hans war ein ausgezeichneter Sportler und ein „Avanguardista“ in der ­faschistischen Jugendorganisation „Opera Balilla Nazionale“. Zu den Auftritten der „Balilla“ gehörten unter anderem die jährlich stattfindenden, nationalen Treffen, ‚Campo Dux‘ genannt. Dazu wurden nur die Avanguardisti mit den besten sportlichen Leistungen einberufen. „Einmal durften wir zu einem Skilager nach Bruneck“, erinnerte sich Hans. Warten auf die Heimholung Ganz anders Josef Raffeiner, den sie weder zur Balilla gebracht haben, noch zum Tragen von weißen Stutzen und schon gar nicht von „Pumphosen“ „bei den Deitschen“ nach deren Einmarsch im September 1943. Ob das seine Art von Widerstand gewesen sei. „Wohl weniger Widerstand. Ich hab mich einfach geschämt“, meint er. Wann hat man denn in Latsch mit dem Hitlergruß angefangen? „So um 1936/37. Immer wenn ein deutsches Auto vorbeigefahren ist und die Leute gegrüßt oder aus dem Auto gewunken haben, haben die Unseren begeistert mit dem Hitlergruß geantwortet.“ Bis 1939 seien alle begeistert gewesen, weiß ­Raffeiner. Alle hätten sich gesagt: „Jetzt kommt er uns bald holen. Jemand soll nach dem Anschluss von Österreich gesagt haben: ‚ Heute gehen wir noch walsch schlafen, morgen wachen wir deutsch auf.‘ „ Ganz anders Raffeiners Vater. Der war immer skeptisch. Durch die Zeitungen, die ihm der „Herz-Jesu-Schneider“, der auch Barbier war, überließ, hatte er sich schon vor Kriegsausbruch seinen Reim gemacht: „Gegen die ganzen Staaten können wir nie Krieg führen“, habe der Kleinbauer gesagt. Die „Heimholung“ Österreichs im März 1938 habe aber lange nicht so viel Wirkung gehabt wie die Abstimmung im Saarland. Der Spruch „Zuerst die Saar, wir übers Jahr“ habe sich eingeprägt und habe zur Überlegung geführt: Wenn alle optieren wie im Saarland am 13. Januar 1935, muss Hitler nicht nur die Menschen, sondern auch das Land mitnehmen. „Wir zu Hause waren überzeugt, dass wir gehen müssen und dass dann Walsche kommen“, erzählte ­Raffeiner. „Deswegen bin ich auch nicht nach Trient. Ich wollte ja nicht Pfarrer bei den Walschen werden. Aber sie haben mich ja auch nicht aufgenommen, weil wir deutsch optiert hatten. Daher bin ich den Winter über dem Vater auf der Schüssel gelegen. Ab Frühjahr wurden deutsche Schulen eingerichtet für die Kinder der zukünftigen Aussiedler. Man durfte nur das Fach Deutsch unterrichten. Da es seit 1914 keine Lehrerbildungsanstalten mehr gegeben hat, haben sie alle, die lesen und schreiben konnten, als Lehrer genommen. Ich bin dann froh gewesen, dass man mich gefragt hat. Zu Ostern 1941 bin ich als Lehrer nach Kortsch gekommen. Vormittags wurde Walsch, nachmittags Deutsch unterrichtet“, erinnerte sich der 94-Jährige. Sein gleichaltriger Studienfreund Alois Holzknecht, der Dableiber auf Unterstadel in Martell, gehörte seit Juni 1940 dem „Landwirtschaftsrat“ an und hatte sich mit dem Zusammenstellen von Getreidelieferungen und statistischen Daten zu befassen. „Da ich ein gutes Verhältnis zum Prefetto Agostino Podestá pflegte, dem Nachfolger von Pre­fetto Mastromattei in Bozen, hab ich mich für ein paar Mitbürger eingesetzt. Sie hätten einrücken müssen.“ Ob das nach dem Einmarsch der Wehrmacht Folgen gehabt habe. „Wir Dableiber haben schon vorher Provokationen und Konfrontationen vermieden. Ich in meiner Funktion habe immer versucht, zu den Menschen zu halten, indem ich geschaut habe, dass sie möglichst gute Preise erzielten, wenn sie Tiere stellen mussten“, erklärte Holzknecht. Acht Monate später, am 8. Mai 1944, schien das aber in den Augen der neuen Machthaber kein Bonus mehr zu sein. Alois Holzknecht musste zum Dienst in der Wehrmacht. „Gegen alle Abmachungen. Sie hätten kein Recht gehabt.“ Zusammen mit anderen Dableibern, mit Theologen und Seminaristen kam er bis 13. September nach Graz. „Von dort haben sie mich zur 34. Infanterie-Division gesteckt und in die Val Stura nach Piemont versetzt.“ Holzknecht ist am 10. Juni 1945, am Herzjesu-Sonntag nach Hause gekommen, ohne jemals auf Menschen geschossen zu haben. Gut zwei Wochen später hätten ihm der Präfekt Silvio und der amerikanische Befehlshaber in Bozen die Ernennungsurkunde zum kommissarischen Bürgermeister von Martell überreicht. Im Dienste der Savoyer Während sich Alois Holzknecht noch einige Monate des Zivilstandes erfreuen konnte, steckte Meinrad, sein Verwandter auf Niederhof, bereits in Uniform. Als Dableiber und erklärter italienischer Staatsbürger durfte er sogar den Dienstort wählen. Dadurch kam er zu einer kurzen Ausbildung als Infanterist nach Schlanders. „Dienst gemacht habe ich nicht viel. Mein wichtigster Auftrag lautete, für meinen Hauptmann bei den umliegenden Bauern Eier einzukaufen. Und das hab ich gern gemacht. Mir haben die Leute schon welche gegeben. Unsere Übungen haben wir auf den Kortscher Wiesen abgehalten.“ Da Holzknechts Division aber in Griechenland stationiert war, lag eine Versetzung drohend in der Luft. Wie hat man das aufgenommen: Die Söhne der Optanten mussten für Deutschland an die Front und ihr Dableiber habt im Tal draußen eine ruhige Kugel geschoben? „Ja, es wurde schon viel geredet. Es hat Anfeindungen von den Nachbarn gegeben. Viele der Optanten haben rückoptiert, um nicht einrücken zu müssen. Ich und drei andere hatten ausgemacht, über Taufers in die Schweiz zu flüchten. Zumal wir den ‚Campo‘ in Prad machen mussten und der Grenze ganz nahe waren.“ Schmunzelnd erzählt er, wie er am 8. September 1943 in der Finanzkaserne am Reschen einen Schwarzsender abgehört und als erster erfahren hatte, das ­„Esercito“­ in Süditalien kapituliert hatte. Er habe sich dann bei der SS auf der anderen Seite der Grenze ein Fahrrad ausgeliehen und sei zur Kommandatur seiner Truppe nach Graun gefahren. Dort hatte noch niemand eine Ahnung vom Waffenstillstand. Er habe sich mit dem Lechthaler Jogg aus Kortsch abgesprochen und sei vom Plan, in die Schweiz zu flüchten, abgerückt. Als Meinrad das Rad zurückbringen wollte, habe er ‚juzen‘ und rufen gehört: „É finita la guerra. Possiamo andare a casa“. Plötzlich hätten Maschinengewehre losgerattert. Die SS hatte zu den Italienern hinaufgeschossen, die in ihren Bunkern saßen. Schließlich seien diese Richtung Piz Lat in die Schweiz geflüchtet. „Uns haben sie entwaffnet“, erzählte Meinrad. „Dann haben sie uns in einen Stall neben Schloss Nauders eingesperrt.“ Als Gefangener sei er über Nürnberg zur Oder und in ein Lager bei Stettin (damals Pommern, heute Polen) gebracht worden. Später habe man die Südtiroler ausgesondert und ihnen die Wahl gelassen: zur SS oder zur Infanterie nach Graz. Meinrad wollte in die Berge und hat sich zur Infanterie gemeldet. Nach der Ausbildung sei er nach Salzburg versetzt worden. Zerrissene Familien Als Meinrad Holzknecht von der Odermündung in die geliebten Berge zurückkehren durfte und zum Wehrmachtssoldaten ausgebildet wurde, erwartete im Stadtteil Klokočov der Kleinstadt Příbor Maria Pohl Pedross Witwe Kerschbaumer ihr 7. Kind. Am 12. Februar 1944 wurde Marlene geboren. Vater Engelbert war schon zum Militärdienst eingezogen worden. Im Jänner 1945 hörte man in Příbor bereits den Kanonendonner von der etwa 50 km entfernten Front. Marlene und Traudl Pedross erinnern sich, dass ihre Mutter von einem russischen Offizier erzählt habe, von dem sie aufgefordert worden sei, sofort die Gegend zu verlassen. Er soll auch schon Passierscheine mitgebracht haben. Mit dem 6-jährigen Albert, der 4-jährigen Traudl und der 11 Monate alten Marlene ist Maria Kerschbaumer dann bei Nacht und Nebel geflüchtet. Tochter Bibiana, die 15-Jährige, musste zurückbleiben. Sie hat sich dann einer Familie aus Klausen angeschlossen und ist auf abenteuerliche Weise im April 1945 in Latsch eingetroffen. Über verschiedene Stationen bei Bekannten in Österreich war Maria Kerschbaumer mit ihren drei Kindern fast drei Monate auf der Flucht und im März 1945 in Meran angekommen. Rosl Kerschbaumer, die in Bischofshofen geblieben war, kam illegal 1947 durch das Ötztal nach Vernagt im Schnalstal und von dort im Auto des Bäckers Josef Fuchs nach Latsch. Auch 75 Jahre nach der Option und 69 Jahre nach Kriegsende fällt es den Rücksiedlern immer noch schwer, ihr ganzes Elend und ihre Ängste offen zu legen. Für Marlene Pedross hatte die Option noch lange konkrete Nachwirkungen. Bei ihrer Erstkommunion 1950 musste ihre Mutter vor dem Pfarrer schwören, dass sie katholisch getauft worden ist. Sie selbst hat sich immer geschämt, in der damaligen Tschechoslowakei geboren zu sein. Vergeblich suchte Marlene zu ihrer Hochzeit um eine Taufurkunde an. Erst am 11. August 1975 bescheinigte ihr der Verwalter der Pfarre Příbor, dass sie am 12. März 1944 nach „ritum ecclesiae romanae“ getauft worden sei. Günther Schöpf
Günther Schöpf

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