… und immer wieder Angst
Publiziert in 24 / 2002 - Erschienen am 19. Dezember 2002
So lautet der Titel des nicht veröffentlichen Manuskripts von Gertraud aus Mals. Sie hatte ihrem krebskranken Mann Karl Heinz, den sie liebevoll Charly nennt, einst versprochen, seinen Leidensweg festzuhalten, um bewusst zu machen, dass es kein höheres Gut als die Gesundheit gibt. Während Gertraud ihn in seiner Krankheit begleitete, begann sie zu schreiben, eine Art Tagebuch zu führen, über die Wechselbäder der Gefühle, über Schmerzen, Momente der Zuversicht, der Hoffnung und der Angst. Berührend sind ihre Aufzeichnungen aus der Weihnachtszeit 1988. Carly war erst seit einem Monat im Krankenhaus von Bozen. Die Chemotherapie hatte ihm schon so zugesetzt, dass er die Festtage nicht zu Hause verbringen konnte.
Gertrauds Aufzeichnungen:
23. Dezember
Die Kopfschmerzen werden immer schlimmer. Die Ärzte wissen sich keinen Rat mehr. Als ich und meine Schwiegermutter die Hämatologie betreten, kommt uns ein Arzt auf dem Flur entgegen und erklärt uns: “Karl Heinz ist einseitig gelähmt, er hat heute früh eine Art epileptischen Anfall bekommen, von dem die Lähmung zurückgeblieben ist. Dazu muss ich noch sagen, wenn er das trotz allem schafft, dann nur weil er ein junges Herz hat." Armer Charly, was musst du alles durchmachen. Bist erst 23 Jahre alt und schon an der Schwelle zum Tod. Du bist noch so jung. Wir haben vor zwei Jahren am 14. Juni geheiratet. Du warst damals 21 Jahre und 6 Tage alt. Sechs Monate später ist dann unsere Tochter geboren worden. Und nun soll das alles gewesen sein? N e i n !! Wir müssen kämpfen. Charly, es lohnt sich zu kämpfen, du hast eine kleine Tochter und eine Frau, die dich brauchen und dich lieben. Als wir in Charlys Zimmer sind, sehen wir, wie er hilflos daliegt. Er reagiert kaum auf unseren Besuch. Später probiert er zu sprechen, aber es klappt nur ganz schlecht. Nun ist er wie ein Baby, man muss ihn füttern, waschen, und anziehen…
24. Dezember
Es ist Samstag, Heilgabend. Draußen auf dem Flur spielt jemand das Lied "Stille Nacht". Charly bekommt es irgendwie mit. Ich halte seine Hände und dann weinen wir. Die Krankenschwester bringt uns ein Gesteck aus Tannenzweigen mit einer brennenden Kerze, um auch uns ein bisschen Weihnachten zu vermitteln. Es tut weh. Ich habe nur noch einen Wunsch: Hoffentlich kann Charly wenigstens noch einmal nach Hause gehen. Schweren Herzens trenne ich mich heute von ihm. Er bleibt alleine in seinem dunklen Zimmer zurück.
Der Parkplatz für Besucher ist fast leer. Ich öffne die Autotür und schaue zum achten Stockwerk hoch, so als möchte ich sagen: "Gute Nacht Charly, ich liebe dich." Die Weihnachtsbeleuchtung, die freudig stimmen soll, machen mich heute nur noch trauriger.
Zu Hause erfahre ich, dass meine Tochter Stefanie krank ist…. Mutter sagt, dass sie gegen Abend plötzlich hohes Fieber bekommen hat. Unser Christbaum wird angezündet, doch niemand denkt an Weihnachten…
25. Dezember
Heute ist Christtag, normalerweise ein friedlicher und besinnlicher Festtag, aber dieses Jahr ist alles anders, alles so fremd. Ich trete ins Krankenzimmer und stelle fest, dass sich der Zustand meines Mannes nicht gebessert hat. Charly öffnet langsam die Augen, er sieht mich, doch ich habe das Gefühl, er nimmt mich nicht wahr. An seinen Stirnfalten erkenne ich, dass er immer noch diese schrecklichen Kopfschmerzen haben muss. Seine Augen schließen sich wieder. Ich sitze an seinem Bett und halte seine Hand. Ich beobachte seinen abgemagerten Körper, seine Adern und Venen und frage mich, was da drinnen eigentlich vorgeht. Was ist das, was hier alles zerstört? Ich fange an zu beten, ich bitte um Hilfe von oben. Ich glaube nur, der da oben kann hier noch helfen. Ich denke darüber nach, dass man sich oft nur an Gott wendet, wenn es einem schlecht geht. Aber ich nehme mir vor, dass ich mich von nun an öfters an ihn erinnere.
26. Dezember
Es ist Stephanstag, unsere Tochter hat Namenstag. Nach dem Mittagessen fahre ich mit meiner Schwiegermutter zu Charly….. Er deutet auf das Essen, das unberührt auf dem Nachtkästchen steht. Langsam versucht er zu essen. Er schwitzt vor Schwäche und Anstrengung. Er legt sich zurück. Bald zittert er, sein ganzer Körper beginnt zu vibrieren. Zuerst schwach, dann immer stärker. Wir verstehen, dass das wieder so ein Anfall sein muss wie vor drei Tagen…. Der Arzt gibt ihm eine Valiumspritze. Nachher schläft er ganz friedlich ein, seine Gesichtszüge sind entspannt. Wir fahren schweigend und wie geschlagen nach Hause.
27. Dezember
…heute habe ich Glück. Hat der da oben vielleicht doch geholfen? Schon von der Tür aus kann ich erkennen, dass es Charly besser geht. Als er mich sieht, setzt er sich auf und lächelt mir zu. Er erzählt mir, dass sein gestriger Anfall die Lähmung wieder gelöst hat. Wir sind richtig glücklich und umarmen uns. Charly wird es schaffen. Wir erfahren, dass er am Neujahrtag für vier Tage nach Hause darf.
Den Kampf gegen die Leukämie verlor Charly drei Jahre später am 6. September 1991 im Alter von 26 Jahren.
Magdalena Dietl Sapelza