Lebenszeichen aus dem Armenhaus West

Publiziert in 41 / 2011 - Erschienen am 16. November 2011
Martell gehört mit der angrenzenden Gemeinde Stilfs, den Deutschnonsberger und Ultner Gemeinden zu den „gefährdetsten unter den gefährdeten Gemeinden“ im armen Westen. Durch seine „sehr schwache Bevölkerungsentwicklung und sehr ­schwache Wirtschafts- und Sozialstruktur“ wird Martell laut einer Studie der Handelskammer zu den „G7“ gerechnet. von Günther Schöpf Von der Töll westwärts gibt es drei große Stauseen, fünf große Kraft-Werke, jede Menge gemeindeeigene Kleinkraft- und Fernheizwerke. Der Westen verfügt über landschaftliche Schönheiten, Nationalpark und Natura 2000-Gebiete, über Gletscher- und Winterskigebiete, über intensiven Obstbau, einmalige Kulturschätze und kreative­ Köpfe. Trotzdem gehören mit Stilfs und Martell zwei flächenmäßig große Gemeinden zu den „G 7“. Nicht zu den sieben stärksten Industrienationen, sondern nach ­Erkenntnissen des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) zur untersten von sieben Gruppen der 116 Südtiroler Gemeinden. Das WIFO an der Handelskammer befand, dass im Vinschgau nicht eine einzige Gemeinde in der obersten Liga spielt. Naturns hat es laut Studie mit „starker Bevölkerungsentwicklung und starker Wirtschafts- und Sozialstruktur“ gerade mal in die 2. Kategorie geschafft. Plaus ist mit „starker Bevölkerungsentwicklung, schwacher Wirtschafts- und Sozialstruktur“ ein Sonderfall der Gruppe 3. Erst in der Gruppe 5 finden sich die Gemeinden Latsch, Mals, Partschins, Prad, Schlanders, Schluderns und Schnals mit „durchschnittlicher Bevölkerungsentwicklung sowie durchschnittlicher Wirtschafts- und Sozialstruktur“. Schwach eingestuft werden die „Sechsergemeinden“ Graun, Kastelbell-Tschars, Laas und Taufers im Münstertal. Es folgen die „Armen im Armenhaus Westen“: Stilfs und Martell. Im Tal der Erdbeerköniginnen Laut Bildungsgrad, Berufsauspendler, Bautätigkeit, besiedelte Fläche, im Dauersiedlungsgebiet nicht ständig bewohnte Wohnungen, Wertschöpfung pro Beschäftigten, Arbeitslosenrate, touristische Aufnahmefähigkeit und Arbeitsplatzdichte bedeute die demographische Entwicklung eine ernstzunehmende Gefahr für die Gemeinde Martell. Die Hauptursachen für die Abwanderung seien die geografische Abgelegenheit und daher das beschränkte Angebot auf dem Arbeitsmarkt. Die Bürger der landwirtschaftlich geprägten Gemeinde seien auf zusätzliche Erwerbsquellen angewiesen, die aber bisher im Tal selbst nicht geschaffen werden konnten. Die touristische Aufnahmekapazität in Martell sei hoch, könne aber zur Arbeitsplatzsituation der einheimischen Bevölkerung kaum positiv beitragen Ein Problem stelle für junge Bürger der kostenintensive Wohnungsbau in abgelegenen Gebieten trotz günstiger Grundpreise dar. Die Anzahl der Personen mit einem Oberschul- oder höheren Abschluss im Bezug zur Anzahl der Personen im Alter von 14 Jahren und mehr betrage in Martell 12,4 Prozent. Der Durchschnitt in den 13 gefährdeten Gemeinden liege bei 16,5, in Südtirol bei 29,4 Prozent (Untersuchungen aus dem Jahre 2001). Trotz der allgemein als gut befundenen Lebensqualität konnte die Abwanderung bisher nicht aufgehalten werden. Soweit die Studie. Bedenklich ist die demografische Entwicklung Bürgermeister Georg Altstätter, 40, wollte die Sache differenzierter gesehen haben: „Das Wort abwanderungsgefährdet ist halt sehr negativ. Man sollte sich die Mühe ­machen, die Dinge etwas auseinander zu halten.“ Während Leander Regensburger, 33, sein Mitarbeiter im Meldeamt und überzeugter Marteller, die Bevölkerungsentwicklung zwischen 1949 und 2009 aufs Papier brachte, griff Bürgermeister ­Altstätter zur Studie des WIFO und ­klappte die Doppelseite mit der Bevölkerungsentwicklung im Alpenbogen auf. Rentner hätten dünn besiedelte Regionen in den französischen Alpen als Alterssitz entdeckt und schon war eine Zuwanderung von 7,5 Prozent feststellbar. Damit wollte er beweisen, dass bei der Einwohnerzahl von Martell ein einziger Todesfall, das Eingehen einer Ehe oder das Wegziehen einer geschiedenen Partei samt Kinder genügen, um eine fast 1-prozentige Abwanderung festzustellen. „Im Jahre 1967 lebten 1.004 Bürger in der Gemeinde; sieben Jahre später waren es noch 904. Jeder weiß aber, wie viele Personen damals zu einem Haushalt gehörten und wie viele heute. Vor zwei Jahren waren wir 871, heuer sind wir 883. An sich eine Zuwanderung, aber es ist uns bewusst, dass demnächst der Überalterungseffekt greifen wird und zusammen mit dem Geburtenrückgang zu gravierenden Problemen führen kann. Ich möchte die Entwicklung immer im Auge behalten. Zugegeben, wir haben Probleme mit dem Wohnbauangebot. Unternehmer haben kein Interesse, in Martell Mietwohnungen zu bauen, weil die Gewinnspanne im Haupttal viel höher ist. Natürlich bräuchte es Arbeitsplätze; die braucht es immer. Das Problem bezieht sich aber nicht nur auf Martell, sondern auf den Vinschgau. Dort fehlen vor allem qualifizierte Arbeitsplätze. Es wird kaum möglich sein, Handwerks- oder Industriebetriebe hier anzusiedeln, außer wir bieten ihnen Standortvorteile, zum Beispiel durch günstige Stromtarife, weil wir uns in der Energiegewinnung auf eigene Füße stellen oder am Strom-Kuchen mit naschen können.“ Ein großes Problem sieht Altstätter in der Gemeinde-Finanzierung pro Einwohner. „Martell umfasst 143,82 Quadratkilometer mit Hofzufahrten und ausgedehntem Wegenetz und zählt 883 Einwohner. Naturns ist flächenmäßig nicht einmal halb so groß und hat 5.440 Einwohner. Das Geld wird pro Kopf verteilt.“ Marteller, die sich so oder so arrangiert haben Angelika Schwienbacher, 36, aus Martell-Ennewasser, jetzt wohnhaft in Martell-Meiern, tätig im Verkaufsinnendienst der Firma Röfix, Töll (Gemeinde Partschins), Pendelstrecke 70 km hin und zurück. „In Martell zu wohnen bedeutet für mich Ruhe und Lebensqualität. Man kennt sich und ist als Pendler zwar in die Dorfgemeinschaft integriert, aber doch nicht so, wie wenn man auch in Martell arbeiten würde. Und das ist gut so. Das Pendeln ist reine Gewohnheitssache und gehört für mich einfach dazu.“ Michael Kobald, 44, aus Martell-Gand, pendelte viermal am Tag von Martell nach Schlanders und zurück. Er hat inzwischen in Goldrain gebaut. „Meine Frau ist in zwei Minuten am Arbeitsplatz, das Kind in zwei Minuten bei der Schule, alle zusammen sind wir in fünf Minuten am Bahnhof.“ Martina Schwienbacher, 26, aus Martell-Ennewasser, arbeitet in Latsch und hat in Morter ein Wohnung bezogen. „Ich hatte keine Chance in die Rangliste des geförderten Wohnbau aufgenommen zu werden. Als arbeitende Normalverdienerin kam ich immer nach Arbeitslosen oder Frauen mit Kindern.“ Johann Perkmann, 54, aus Martell-Burgaun, gelernter Tischler, wohnt mit der Familie in Morter. Seine Frau stammt aus Morter. Jahrelang ist er zu einer Baufirma nach Algund gependelt. Seit 1980 arbeitet er beim Landesstraßendienst. War 35 Jahre lang Mitglied der Musikkapelle Martell und ist jetzt noch Mitglied des dortigen Fischer-Vereins. Claudia Stricker, geborene Heinecke, 45, aus Deutschland, ist mit ihrem Mann, einem gebürtigen Marteller und Geschäftsmann und ihren Kindern nach Martell, Gand, gezogen. „Um meinen Schwiegervater zu betreuen, aber auch, weil Südtirol so schön ist.“ Heidi Gamper, 29, aus Matell-Salt, Gemeinde-Referentin und in Martell verheiratet, pendelt täglich 120 Kilometer zu und von ihrem Arbeitsplatz. Peter Altstätter, 31, geboren in Martell-Stein, arbeitet und wohnt in Bozen, fährt aber zu Proben und Veranstaltungen der Musikkapelle und des Alpenvereins nach Martell. Helmut Pinggera bildet mit dem ehe­maligen Bürgermeister von Lana, Christoph Gufler, die Speerspitze einer von der Landesregierung eingesetzten „Anti-Abwanderungskommission“. Er stammt aus der „gefährdeten Gemeinde Stilfs“: ­„LEADER-Programme wird es von 2013 bis 2018 wieder geben. Noch ist allerdings das Grundsatzpapier zu erarbeiten. Sicher wird die Mitfinanzierung der betroffenen Gemeinden großzügig gehandhabt werden; sie werden sich ungefähr zu 20 Prozent daran beteiligen können. Gefördert werden vorwiegend Kooperationen. Der Vinschgau braucht sicher wieder ein Entwicklungsprogramm. Es gilt Dialoge zwischen Landesregierung und Vinschger Verbände einzuleiten und Stoßrichtungen abzu­stecken.“ Georg Lun hat als Mitarbeiter des WIFO und Mitautor der Studie die Ergebnisse in Anwesenheit von Landeshauptmannstellvertreter Hans Berger, Handelskammerpräsident Michl Ebner und Gemeindeverbandspräsident Arno Kompatscher vorgestellt: „Wir haben das Thema im letzten Jahr aufgegriffen und sofort erkannt, dass wir nicht nur die Bevölkerungsentwicklung, sondern auch die Wirtschaftsentwicklung der Gemeinden untersuchen müssen. Neu war, dass auch Gemeinden abwanderungsgefährdet sind, die touristisch gut aufgestellt sind. Es besteht auf jeden Fall Handlungsbedarf. Ist eine ­Gemeinde erst derart ausgeblutet, dass es kein Gasthaus oder kein Geschäft mehr trägt, ist sie verloren. Dazu haben wir ­fundierte ­Ursachenforschung betrieben.“
Günther Schöpf

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