Einbruch in die Normalität
Publiziert in 11 / 2002 - Erschienen am 6. Juni 2002
[F]Der Elternmord in Partschins hat die Südtiroler Öffentlichkeit unvorbereitet getroffen. Viele Fragen wirft die unerklärliche Tat des 20-jährigen Ludwig Österreicher auf. Die Medien taten sich schwer gängige Muster zu finden. Dabei mussten zunächst Motive wie Satanismus, Drogenexzesse und Neonazis herhalten. Übrig blieb das Bild eines von seiner Umgebung als normal und intelligent wahrgenommenen Jugendlichen, das es noch schwerer macht, das Unfassbare dieser Tat zu erklären. [/F]
Vor noch nicht zwei Wochen, in der Nacht vom Freitag, den 24., auf Samstag, den 25. Mai, hat der zwanzigjährige Ludwig Österreicher seine Eltern Rosemarie und Josef Österreicher im Vilghueberhof in Partschins durch insgesamt dreizehn Messerstiche erstochen. Beim ersten Verhör am Tag der Festnahme sagte er aus, Stimmen hätten ihm befohlen, seine Eltern vom Teufel zu befreien. Die Mordabsicht an seiner siebzehnjährigen Schwester, die in jener Nacht die Notrufnummer der Feuerwehr alarmierte, hat er bestritten.
Niemand hielt diese Bluttat für möglich, niemand hätte Ludwig Österreicher, einem mit allen Attributen der Normalität beschriebenen Jugendlichen, zugetraut, was in dieser Nacht Wirklichkeit wurde. Der Vorarlberger Psychiater Reinhard Haller, Chefarzt am Krankenhaus Maria Ebene, mutmaßt auf die Frage nach möglichen psychischen Ursachen, dass es sich hier um einen schweren Einzelfall handle. Auf jeden Fall komme eine solche Tat aber nicht aus heiterem Himmel, ihr gehe meistens eine schwere psychische Störung voraus, deren Vorzeichen meistens zu wenig ernst genommen würden oder über die man viel zu wenig informiert sei. "Schizophrenie kann jeden treffen," den Elternmord selbst bezeichnet er als "schicksalhaft.
Beide Eltern waren in das Dorfleben von Partschins voll integriert und ihr Familienleben galt als durchwegs normal, wenn unter einem normalen Familienleben auch das Vorhandensein von Schwierigkeiten verstanden wird. Die Zeichen, die im Nachhinein auf eine bereits vorher existierende psychische Störung hinweisen hätten können, waren vor der Tat schwer zu deuten. Selbst rückblickend ist eine logische Verkettung von Ursache und Wirkung nur in Bruchstücken möglich. Eine abgebrochene psychologische Behandlung, Äußerungen Ludwigs über den Satan, die seine Schwester beunruhigten, das Gefühl der Mutter, dass etwas Schlimmes im Gange sei, Wutausbrüche, die jedoch dem Bild eines zurückhaltenden netten Jugendlichen nicht widersprechen, - denn nett sein ist eine Eigenschaft, die ein Verhältnis zu anderen definieren kann, aber nicht ein Verhältnis zu sich selbst - oder die Tatsache, dass Ludwig in den Tagen zuvor Verwandte aufsuchte, die er mit seltsamen Fragen konfrontierte, das alles war alarmierend, aber nichts davon hätte auch nur irgendwie den Mord erahnen lassen. Vielmehr war es ein Hinweis darauf, dass er psychologische Hilfe brauchte, den seine Mutter offenbar verstand.
Stimmen zu hören, die für andere nicht wahrnehmbar sind, ist, wie in den Lehrbüchern der Psychiatrie zu lesen ist, ein häufiges Symptom psychischer Erkrankungen. Die Stimamen können beschimpfen, drohen, eine Unterhaltung fortsetzen oder kommentieren. Gefährlich werden sie dann, wenn es sich um selten auftretende "imperative", d.h. befehlende Stimmen handelt, weil nicht abzusehen ist, was sie befehlen. Aber wer gesteht sich schon psychische Schwierigkeiten ein? Denn eines ist das Leiden am psychischen Krankheitsbild selbst, ein anderes ist die Angst vor dem Herausfall aus den Grenzen der Normalität, die gleichzeitig die Grenzen der Integration ins Dorfleben sind. Sei es aus der Normalität der Jugendlichen, zu der auch Sauftouren, Ecstasy, Haschisch gehören, sei es die der Erwachsenen mit Arbeit, Vereinsleben, Fernsehen und Alkohol.
Psychische Leiden werden so lange versteckt, solange sie sich verstecken lassen. Sie sind in unserer Gesellschaft immer noch mit einem Makel behaftet, der gesellschaftliche Ausgrenzungen zur Folge hat. Es sind gerade "normale" Jugendliche, die an psychischen Störungen erkranken. Unter Schizophrenie, einem äußerst komplexen und schwer zu diagnostizierendem Krankheitsbild, leiden in Südtirol gegenwärtig vierhundert überwiegend jugendliche Menschen. Die Gefahr, dass im Rahmen der Spekulationen über die auslösenden Triebfedern des Elternmordes, Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, in Zusammenhang mit Gewaltverbrechen gebracht und sie noch weiter ins Eck gestellt werden, ist groß. Die Kriminalitätsrate bei an Schizophrenie Erkrankten liegt jedoch laut Untersuchungen nicht über derjenigen der Normalbevölkerung.
Vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Tat wird die Vergangenheit anders beleuchtet, jedes Detail bekommt eine neue Dimension. Alles im Vorleben Ludwig Österreichers wird zum Indiz. In allem wird versucht Erklärungen für etwas zu finden, das sich einer schnellen Erklärung entzieht. Das Bedürfnis wieder in jene Normalität zurückzukehren, aus der viele in den Tagen danach herausgerissen worden sind, spiegelt sich im Bedürfnis wider, eine schlüssige Deutung dieser tragischen Ereignisse zu finden, um mit der Unfassbarkeit des Geschehenen zurecht zu kommen. Doch jede schlüssige Erklärung der Gründe dieses Elternmordes ist gleichzeitig eine Vereinfachung. Haschisch und Alkohol als die Krankheitssymptome potenzierende und zum Ausbruch bringende Drogen, Schizophrenie als Formel für die Tat, ein jahrelang verborgener traumatischer Konflikt, der hinter der Normalität gemutmaßt wird und der "den Kochtopf einfach zum Explodieren gebracht hat": die Ursachenforschung übernehmen Psychiater, die Begriffe liefern, mit denen der Fall Ludwig Österreicher eingeordnet werden kann, aber der dadurch nicht verständlicher wird.
Ludwig Österreicher wird von zwei von der Anklage und der Verteidigung beauftragten Psychiatern über einen längeren Zeitraum untersucht werden. "Wenn die Krankheitssymptome abklingen, glauben viele nicht, was sie getan haben", so Psychiater Haller. Es ist nicht wie ein Albtraum, aus dem man entsetzt erwacht, um nach und nach mit immenser Erleichterung gewahr zu werden, dass es nur ein Traum war, sondern nach und nach sickert ein, dass das, was als Albtraum schon unerträglich wäre, Wirklichkeit ist.
Die große Anteilnahme am Tod von Rosemarie und Josef Österreicher und an der Trauer ihrer Kinder, die beim Begräbnis letzten Freitag in Partschins gezeigt wurde, wird von vielen auch auf das weitere Schicksal Ludwigs ausgeweitet, das als Teil dieser Tragödie begriffen wird, zu deren Opfer auch er gehört. Die Frage, wohin er kommen wird, angesichts der Tatsache, dass es in Südtirol keine gerichtspsychiatrischen Anstalten gibt, beschäftigte viele. Seit letzten Samstag ist bekannt, das er in die geschlossene gerichtspsychiatrische Anstalt nach Reggio Emilia verlegt wird.
Das Wechselverhältnis zwischen einem schizophrenen Schub auf der einen Seite und Drogen wie Alkohol und synthetischen Drogen auf der anderen Seite könnte diesen – um hier noch einmal ein für diesen Fall oft wiederholtes Wort zu gebrauchen – unfassbaren Gewaltausbruch in seiner Unmittelbarkeit und Singularität erklären. Ludwig hat bei seiner Einvernahme ausgesagt, dass er am Abend zuvor Haschisch und Alkohol konsumiert habe.
Die wahre Ursachenfindung wird ein für alle unmittelbar Betroffenen langer und schmerzhafter Prozess. So bleibt es ein tragischer Einzelfall, der ungeeignet ist, von ihm ausgehend die zu hinterfragende Idylle eines Tourismusdorfes, den steigenden Konformitätsdruck, dem Jugendliche ausgesetzt sind oder die Tragödien, die sich innerhalb von nach außen intakt geltenden Familien abspielen, in einen schlüssigen und ursächlichen Zusammenhang zum Geschehenen zu bringen.
[F] Krankheitsbild: Schizophrenie [/F]
[K] Schizophrenie ist keine "Zivilisationskrankheit". Überall auf der Welt erkrankt zirka ein Prozent der Bevölkerung an Schizophrenie, unabhängig von Rasse, Kultur und sozialem Stand. Das Haupterkrankungsalter liegt zwischen der Pubertät (ca. 16. Lj.) und dem 30. Lebensjahr. Im Laufe der Geschichte wurden die Erkrankten stigmatisiert und von der Gesellschaft ausgeschlossen, was zum Teil auch heute noch geschieht.
Ursachen: Bis heute ist es noch nicht gelungen, eine eindeutige Erklärung für die Entstehung einer schizophrenen Erkrankung zu finden. In erster Linie handelt es sich um eine Störung der Informationsüberträgerstoffe im Gehirn. Dazu kommen noch genetische (Vererbung), psychodynamische (Stress, körperliche Belastungen, kritische Lebensereignisse) und soziale Faktoren - z. B. 'gestörte' Familienstrukturen. Zu den psychodynamischen Faktoren wäre noch anzumerken, dass Schizophrene schon auf geringe Eindrücke übermäßig ansprechen; deshalb spricht man auch von der speziellen 'Verletzlichkeit' (Vulnerabilität) schizophren Erkrankter.
Symptome: Erste Anzeichen für Schizophrenie zeigen sich oftmals in irritierenden oder sogar schockierenden Verhaltensänderungen. Besonders für nahe Angehörige kann es sehr schwer sein, mit den Symptomen der Schizophrenie umzugehen - in dem Bewusstsein, wie interessiert oder temperamentvoll die betroffene Person war, bevor sie krank wurde. Der plötzliche Ausbruch schwerer psychotischer Symptome wird als "akute psychotische" Phase der Schizophrenie bezeichnet. Sie ist gekennzeichnet durch psychische Beeinträchtigungen, die mit Halluzinationen - also Störungen der Sinneswahrnehmung -, und/oder Wahnvorstellungen einhergehen, die aus dem Unvermögen herrühren, reale von nicht-realen Erlebnissen zu unterscheiden. Weniger auffällige Symptome wie soziale Abkapselung oder auch ungewöhnliches Sprechen, Denken oder Verhalten können den akuten Symptomen vorangehen, zeitgleich mit ihnen auftreten oder ihnen folgen.
Heilung: Mit Hilfe von gezielten Maßnahmen gelingt heute eine erstaunlich große Zahl von Heilungen oder wesentlichen Besserungen.
Interessierten wird die Broschüre in der Reihe „Psychische Gesundheit“ des Amtes für Gesundheitswesen empfohlen oder eine kleine Auswahl von Internetadressen, die sich ausführlich mit Schizophrenie auseinandersetzen.
www.provinz.bz.it/gesundheitswesen/2302/salute_mentale/index_d.htm
www.psychiatrie.de/diagnose/schizo.htm
www.kompetenznetz-schizophrenie.de
Vom 4. bis 15. Juni 2002 findet in Mals ein Suchtpräventionsprojekt des Jugendienstes Obervinschgau in Mals statt. (siehe Programm im letzten „Der Vinschger“)
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Stefan Schwienbacher