Monika Hauser
Andrea Fleckinger
Barbara Poggio, Sigrid Prader, Monika Hauser, Arno Kompatscher und Christa Ladurner bei der Projektvorstellung in Bozen (v.l.).

Das Kontinuum von Gewalt

Landesweite Aktionsforschung zu möglichen Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen beginnt im Vinschgau. Monika Hauser und Andrea Fleckinger im Interview.  

Publiziert in 12 / 2023 - Erschienen am 4. Juli 2023

Schlanders/Vinschgau - Geschlechtsspezifische Gewalt und ihre möglichen Folgen wirken auch in die nächsten Generationen hinein. Das Verschweigen und Verdrängen von Gewalterfahrungen der Eltern- und Großelterngeneration hat die Auseinandersetzung mit der Realität von Gewalt in Südtirol lange erschwert und wurde bisher nicht aufgearbeitet. Die Universität Trient, medica mondiale, das Forum Prävention und das Frauenmuseum Meran führen gemeinschaftlich eine feministisch-partizipative Aktionsforschung zu möglichen Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Südtirol, ausgehend vom Vinschgau, durch. Ziel soll es sein, die Schweigekultur zu durchbrechen sowie vergangene Gewalterfahrungen gesamtgesellschaftlich aufzuarbeiten und präventiv das Entstehen von neuen Gewaltspiralen zu verhindern. Die Bezirkszeitung der Vinschger hat mit der Ideengeberin der Studie, Monika Hauser, und mit der Leiterin der Studie, Andrea Fleckinger von der Universität Trient, ein Gespräch geführt: 

Der Vinschger: Frau Monika Hauser, was verstehen Sie unter sexualisierter Gewalt und welche generationenübergreifenden Folgen können solche Gewalterfahrungen haben? 

Monika Hauser: Mit sexualisierter Gewalt sind alle Formen von Übergriffen gemeint, die Frauen und Mädchen entgegen ihrer körperlichen Selbstbestimmung auf ihren Körper reduzieren und demütigen. Dazu gehören beispielsweise ungewollte Berührungen, erzwungene sexuelle Handlungen oder Vergewaltigung. Sexualisierte Gewalt kann schwere Traumatisierungen auslösen, die zu massiven psychischen, physischen und sozialen Folgen für die Betroffenen führen. Erhalten Betroffene keine fachliche Unterstützung, können sich daraus auch langfristig chronische Symptome entwickeln. Dies umso mehr, wenn die Betroffenen in ihrem Umfeld statt auf Verständnis und Empathie, im Gegenteil auf Abwertung, Isolation oder Ausgrenzung stoßen. Sehr häufig werden Überlebende sexualisierter Gewalt aufgrund patriarchaler Haltungen stigmatisiert. Ohne Verarbeitung bleibt die Person mit ihren Traumata allein, was zu einer Verstärkung des Traumas führen kann. Das beeinträchtigt nicht nur die innere Kraft und Beziehungsfähigkeit der Betroffenen, sondern kann sich auch auf die Erziehung ihrer Kinder und auf das gesamte Umfeld auswirken. Eine traumatisierte, verunsicherte Mutter wird ihre Ängste schon ihrem Baby vermitteln, welches dann selbst verunsichert und gegebenenfalls mit wenig Zuversicht ins Leben startet. Diese Gewalt beeinflusst und prägt die ganze Gesellschaft auf allen Ebenen und über Generationen hinaus. 

Sie reden oft von einer Schweigekultur in der ländlichen, traditionellen Gesellschaft. Haben Sie die hier im Vinschgau selbst erlebt? Wie wichtig ist Ihnen, dass die Studie im Vinschgau ihren Anfang findet? 

Monika Hauser: Diese Schweigekultur habe ich als Jugendliche erlebt, als meine Großmutter in Laas mir von ihren Gewalterfahrungen erzählte. Sie wählte mich, die ich nur in den Ferien dort war und eben niemanden aus ihrem Umfeld dieser ländlich geprägten, traditionellen Gesellschaft. Während meines Medizin-Studiums wurden mir die gesellschaftlichen Zusammenhänge sexualisierter Gewalt immer klarer. Ich verstand, dass patriarchale Strukturen wie im Vinschgau nur weiter existieren können, wenn über das Ausmaß der Gewalt in den Familien geschwiegen wird. In meinem Praktikum am Regionalkrankenhaus in Schlanders hatte ich dann sehr konkreten Anschauungsunterricht zur Thematik: Patientinnen berichteten mir von ihren alltäglichen Gewalterfahrungen. Doch niemand benannte sie als solche. Die Gewalt wurde bagatellisiert und verharmlost. Die fehlende Sensibilität von einigen Kolleginnen und Kollegen, besonders auch auf der Wöchnerinnenstation, fand ich unerträglich. Und auch die Leitungsstrukturen im Haus machten mir deutlich, dass ich zu diesen Themen gefälligst den Mund halten soll. Genauso wie die Betroffenen und ihr Umfeld, sollte auch ich dazu schweigen. Es muss endlich aufhören, dass Frauen und Mädchen sich selbst und ihren Schmerz einkapseln müssen, während die Täter ihr Leben ohne Konsequenzen weiterführen. Die Notwendigkeit, endlich mehr Daten und Erkenntnisse zu dem Thema zu bekommen, war mir daher schon lange klar – und der Vinschgau liegt mir besonders am Herzen. 

Sexualisierte Gewalt war kürzlich auch Thema im Südtiroler Landtag. Wie wichtig finden Sie die Einsetzung einer unabhängigen Kommission bzw. Ombudsstelle und wie steht die Politik allgemein zur Problematik „sexualisierte Gewalt“? 

Monika Hauser: Ich bin sehr froh, dass endlich Menschen im Landtag Politik gestalten, die die gesellschaftliche Dimension unbewältigter Gewalt erkennen und verstehen, dass wir heute ein so hohes Maß an Herabwürdigung von Frauen und sexualisierter Gewalt bis hin zum Femizid haben, weil eben nie darüber gesprochen worden. Es gehört seit 30 Jahren zur Aufgabe von medica mondiale, die Öffentlichkeit und insbesondere die Politik über die gesellschaftliche Dimension unbewältigter Gewalt zu informieren. Langsam stellen wir fest, dass unser Beitrag hier fruchtet. Mit Blick auf den Südtiroler Landtag: Schon 2014 hat Italien die hervorragende Istanbul-Konvention des Europarates 2014 ratifiziert. Jetzt muss das Land sie auch konsequent umsetzen. Bislang aber vergehen die Jahre ungenutzt. Daher ist jetzt endlich die Zeit, Maßnahmen, wie eine unabhängige Kommission mit Ombudsstelle und Forschung, konkret anzugehen. Kurzfristig können Frauen und Mädchen damit besser geschützt werden. Mittel- bis langfristig kann so weitere Gewalt verhindert werden. Weniger Gewalt bedeutet weniger Traumata für alle. Wenn endlich gesprochen werden kann, bedeutet das auch Heilung, und ein Ende der Tabuisierung. Das dient der ganzen Gesellschaft, alle profitieren davon.

Frau Andrea Fleckinger, wie wirkt sich von der Großmutter oder Mutter erlebte sexualisierte Gewalt auf deren Nachkommen aus? 

Andrea Fleckinger: Wie internationale Forschungen aufzeigen, können wir davon ausgehen, dass Traumata aus sexualisierter Gewalt, die nicht bearbeitet wurden, Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen haben. Welche Folgen sich bei welcher Person und in welchem Familiensystem zeigen, kann sehr unterschiedlich sein. Es gilt eine Reihe an individuellen und kontextbezogenen Faktoren zu berücksichtigen, um zu verstehen, welche Auswirkungen sich bei wem in welcher Form zeigen. Gleichzeitig können gewisse Tendenzen beobachtet werden, die uns Indizien geben, wo wir genauer hinschauen und uns Zeit nehmen sollten, nicht nur die Geschichte der Person, sondern auch die ihrer Herkunftsfamilie kennenzulernen. Ganz konkret kann ich folgende Zeichen benennen: psychische Erkrankungen, gynäkologische Probleme wie z.B. chronische unklare Unterbauchbeschwerden oder auch schwierige Schwangerschafts- und Geburtsverläufe, Beziehungsprobleme und Scheidungen, Suchterkrankungen wie z.B. Medikamenten- oder Alkoholsucht. In manchen Familien findet sich häufig auch eine oder mehrere Personen, die „einfach irgendwie immer krank sind“ mit einer Vielzahl von Symptomen, deren Ursachen oft kaum verstanden werden können. Das alles sind Indizien, wo nachgefragt werden sollte. Gleichzeitig ist es natürlich nicht so, dass jede psychische Erkrankung oder jede Alkoholsucht immer mit Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt in Verbindung steht.  

Welche Prozesse und Faktoren beeinflussen die Weitergabe von Traumata an nachkommende Generationen? 

Andrea Fleckinger: Wie bereits gesagt, es gibt eine Reihe von individuellen und auch kontextbezogenen Faktoren, die die Weitergabe von Traumata an nachkommende Generationen begünstigen. Genauso gibt es auch Faktoren, die eine solche Weitergabe verhindern bzw. verringern können. In diesem Zusammenhang sprechen wir von Resilienz. Die Resilienz, man könnte den Begriff mit Widerstandsfähigkeit übersetzen, ist bei jeder Person unterschiedlich stark ausgeprägt. Es hängt von den bisherigen Erfahrungen einer Person ab, den Zusammenhängen, in denen sie groß geworden ist und dem Umfeld, in dem sie heute lebt. Das Zusammenspiel dieser Elemente führt dazu, wie eine Person sich im Leben wahrnimmt, ob sie optimistisch und positiv auf das Leben blickt, sich handlungsfähig fühlt, lösungsorientiert denkt und handelt, gelernt hat, gut für sich zu sorgen, stabile Bindungen und tragende Netzwerke entwickeln konnte und ganz allgemein Verantwortung für ihr Leben übernimmt. Je stärker die Resilienz einer Person ist, umso besser kann sie mit Schicksalsschlägen und traumatischen Erfahrungen umgehen. Wenn Personen hingegen in einem Umfeld aufwachsen, wo früh das Gefühl von Sicherheit verloren ging, wo für sie auf emotionaler Ebene nicht ausreichend gesorgt wurde bzw. werden konnte, sie schwierige Bindungserfahrungen gemacht haben, bis hin zu Gewalt usw., dann ist es wahrscheinlich, dass sie nicht über ein breites Spektrum an Resilienz verfügen, sie also in ihrer Widerstandsfähigkeit eingeschränkt sind. Besonders unterstreichen möchte ich hier als wichtigen Faktor nochmals: das Schweigen. Das Nicht-sprechen-können bzw. Nicht-sprechen-dürfen fördert in hohem Maße das Entstehen von Langzeitfolgen. 

Wie werden Sie und ihre Projektpartnerinnen bei der Aktionsforschung vorgehen? Welche Methodenvielfalt soll hier angewandt werden? 

Andrea Fleckinger: Die Studie Traces – auf Deutsch: Spuren - ist als eine feministisch-partizipative Aktionsforschung angelegt. Wir haben zwei zentrale Anliegen: verstehen und verändern. Das bedeutet, dass es uns darum geht, ausgehend von einem kritischen Blick auf das Geschlechterverhältnis, die Dynamiken der transgenerationalen Weitergabe der Traumata zu erkennen. Das Wissen der Expertinnen von medica mondiale unterstützt uns sehr, diese Zusammenhänge zu verstehen. Genauso wichtig sind die Gespräche mit Betroffenen, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Fachkräften. Nur so ist es für uns möglich, die Folgen, die sexualisierte Gewalt über Generationen hinweg haben kann, zu erkennen.  
Wir nennen unsere Studie partizipativ, weil sie aktiv alle Akteurinnen und Akteure miteinbezieht. Es geht darum zu verstehen, wie die Lebenszusammenhänge im Vinschgau das Entstehen und Fortführen von sexualisierter Gewalt begünstigt haben bzw. begünstigen, wie zum Beispiel die Rolle der Armut in den Nachkriegsjahren, die Spaltung, die die Option in der Gesellschaft hinterlassen hat, die Werte und Vorstellungen, an denen sich die Vinschger Bevölkerung orientiert(e) oder auch die Rolle der katholischen Kirche. Darum ist es für uns wichtig, mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu sprechen, die über die Rolle der Frauen im Vinschgau in der Nachkriegszeit erzählen können. Es ist für uns auch wichtig, mit den Fachkräften zu sprechen, die jeden Tag mit von sexualisierter Gewalt Betroffenen in Kontakt sind, gefordert sind, wie sie mit den Langzeitfolgen umgehen und gleichzeitig nicht immer darüber Bescheid wissen, ob es im familiären Hintergrund sexualisierte Gewalt gab bzw. gibt. Von besonderer Bedeutung sind für uns natürlich die Gespräche mit den Betroffenen selbst. Es ist unser Anliegen, mit 3 Generationen innerhalb eines Familiensystems zu sprechen, um zu verstehen, wie die Weitergabe von Traumata passiert bzw. wie sie verhindert werden kann. Zudem hat unsere Forschung das Ziel, einen Beitrag zu leisten, die Situation zu verändern, das Sprechen über sexualisierte Gewalt möglich zu machen und ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für die Langzeitfolgen zu schaffen. Gemeinsam mit den Expertinnen im Forum Prävention werden wir Präventionsmaterialen ausarbeiten und Methoden und Techniken auch für die Fachkräfte entwickeln, damit sie Langzeitfolgen erkennen und professionell handeln können. Am Ende unserer Studie wir es auch eine Ausstellung im Frauenmuseum Meran geben, die dazu dient, die gesamte Südtiroler Öffentlichkeit zu informieren und zu sensibilisieren, denn auch wenn unsere Studie im Vinschgau beginnt, so ist es mir wichtig anzumerken, dass es in ganz Südtirol sexualisierte Gewalt gibt und überall Personen von Langzeitfolgen betroffen sind.  

Frauen entwickeln oft eigene Bewältigungsmechanismen, um die erfahrene Gewalt auszuhalten bzw. zu verdrängen. Wie aufmerksam muss die Gesellschaft hinschauen? 

Andrea Fleckinger: Sehr aufmerksam würde ich sagen. Wir können davon ausgehen, dass Gewalt an Frauen in unserer Gesellschaft heute so verbreitet ist, weil vergangene Traumata nicht aufgearbeitet wurden. Wir wissen, dass sich jährlich rund 600 Frauen an die Frauenhausdienste in Südtirol wenden, weil sie Gewalt erfahren. Um gleich mit einem gängigen Vorurteil aufzuräumen: die meisten Frauen sind Einheimische, genauso wie die Täter. In meiner Arbeit im Frauenhausdienst habe ich es häufig erlebt, dass den Frauen nicht geglaubt wurde, wenn sie ihre Geschichte erzählt haben, dass die Vorfälle verharmlost wurden oder dass der Frau gar die Schuld für die Gewalt, die sie erlebt hat, gegeben wurde. Darum darf sich jede und jeder fragen: Höre ich zu und glaube ich der Frau, die mir von der Gewalt, die sie erlebt hat, erzählen will? Oder drehe ich mich um, höre weg, beschwichtige usw., nur damit ich möglichst schnell nichts mehr davon hören muss? Die Schweigekultur, die Monika Hauser angesprochen hat, wird von uns allen jeden Tag aufs Neue entweder aufrechterhalten oder schrittweise abgebaut. 

Wer sollen Ihre Interviewpartnerinnen sein und wo können sie sich melden? 

Andrea Fleckinger: Wir haben entschieden, uns in dieser ersten Studie auf Frauen zu konzentrieren. Das bedeutet nicht, dass Männer keine sexualisierte Gewalt erleben oder dass Söhne nicht genauso an den Langzeitfolgen leiden usw. Wir möchten mit drei Frauengenerationen ins Gespräch kommen. Für die erste Generation suchen wir Frauen, die im Vinschgau leben bzw. dort einen großen Teil ihres Lebens verbracht haben, die vor 1952 geboren sind und Formen von sexualisierter Gewalt erfahren haben. Gerne würden wir dann auch mit ihren Töchtern und ihren Enkelinnen ins Gespräch kommen. Alle Gespräche sind freiwillig, vertraulich und personenbezogene Daten werden anonymisiert. Jede Teilnehmerin bleibt während der gesamten Studie darüber informiert, was mit ihrer Geschichte passiert und wo welche Aspekte in welcher Form erzählt werden. Gleichzeitig wird es nicht immer möglich sein, mit allen drei Generationen zu sprechen, darum werden wir auch Frauen in unsere Studie miteinbeziehen, deren Mütter oder Töchter nicht teilnehmen möchten.  
Interessierte können sich bei mir unter: andrea.fleckinger@unitn.it oder Tel. 0464 808 483 melden. 

Ingeborg Rainalter Rechenmacher

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