100 Jahre Andreas Hofer-Syndrom im Vinschgau
Publiziert in 2 / 2009 - Erschienen am 21. Januar 2009
Eine Änderung im Gedenken an AH ist auf jeden Fall festzustellen. Niemand spricht oder schreibt mehr von Jubiläen, man gedenkt oder man besinnt sich. Ob das Gedenken in Form eines Computerspieles fortschrittlich oder bedenklich ist, wird man später überdenken. Kein Thema mehr scheinen marmorne oder eherne Denkmäler zu sein. Das hat sich zwischen 1909 und 1984 ausgelebt. Alles scheint kritischer und gelöster. Zahllose Publikationen nähern sich über AH den Themen Helden, Identität und Heimat. Noch weiß man nur in Umrissen, was an Veranstaltungen auf uns zukommt, daher kann die vorliegende Spurensuche nur unvollständig sein und nur einen quer geschriebenen Streifzug durch den Umgang der Vinschger mit dem „bärtigen Passeirer“ und mit „Anno Neun“ abgeben.
von Günther Schöpf
Die Gedenkfeiern im Jahre 1909 für „Gott, Kaiser und Vaterland“ sollen gewaltig gewesen sein. Man berichtete vom „größten Menschenauflauf im Zusammenhang mit der Jahrhundertfeier“. Zeitungen berichten von 6.000 Besuchern, die in mehreren Sonderzügen von Meran nach Latsch reisten zur Einweihung des „Landesverteidigerdenkmals“. Geistiger Vater des „Adlerdenkmals“ war der Vorsitzende des Festkomitees, der Heimatforscher Johann Pegger, der auch Vorsitzender des Tiroler Volksbundes war. Größter Sponsor war ein Post-Fräulein namens Lina Platzer, die dafür Latscher Ehrenbürgerin wurde. Die Malser haben im selben Jahr ihres Landsmannes Josef Stecher gedacht. Der Adjutant des Schlanderser Majors Teimer und spätere Bürgermeister von Mals erhielt eine Gedenkplatte am Geburtshaus. Ebenfalls einen Gedenkstein bekam an der Schleiser Pfarrkirche der „heldenhaft kämpfende“ Anton Bernhard. Die Schlanderser enthüllten ebenfalls eine marmorne Erinnerung an ihren bekanntesten Weggefährten Andreas Hofers. Der Stein fristet derzeit in der Eingangshalle des Rathauses ein bescheidenes Dasein. Ebenfalls im Rathaus ist das Einladungsplakat zur „Jahrhundertfeier 1909“ aufbewahrt. Über die „kleineren“ Gedenkjahre 1919, 1929, 1939 und 1949 lasteten Fremdherrschaft, Krieg und Not. Im 125. Gedenkjahr 1934 hatte sich das kleine Österreich an Italien angelehnt und durfte die Teilung Tirols nicht thematisieren.
1957 wurde Sigmundskron ein Fanal. Die erste Schützenkompanie nach dem Krieg war im Jahr darauf in Taufers im Münstertal gegründet worden und in Südtirol bekam „Anno Neun“ eine neue Bedeutung. Man rüstete zu einem Gedenkjahr, im Sinne des Wortes: während die Feierkomitees 1959 an patriotischen Reden feilten und an Kundgebungen dachten, bastelten die Widerstandskämpfer bereits an ihren Zeitzündern für die „Bombennacht“. Es gehört zu den Besonderheiten der Vinschger Gedächtniskultur, dass die Marktgemeinde Schlanders im selben Jahr dem umstrittenen Priester Josef Daney am Geburtshaus einen Gedenkstein anbringen ließ und auf dem Sparkassenplatz eine Büste von Martin Rochus Teimer aufstellte (heute steht die Büste im Plawennpark). Gerade Daney hatte den Major in seinen Aufzeichnungen als feigen, arroganten Kriegsgewinnler bezeichnet. In Kortsch wurde im Schulhof (?) ein Denkmal zur Erinnerung an den von Daney verächtlich Anführer der „weizenen Kompanie“ erwähnten Hauptmann Franz Frischmann errichtet. Nach Umbauarbeiten wurden Teile davon im Bauhof von Schlanders aufbewahrt (freundlicher Hinweis von Referentin Andrea Gruber). Im selben Gedenkjahr 1959 kam es zur Gründung der Schützenkompanien von Mals, Schluderns, Prad, Schlanders, Latsch und Kastelbell.
Im Gedenkjahr 1984, auch „Bedenkjahr“ genannt, wurde das Motto „Zukunft heute gestalten“ ausgegeben, dem diesjährigen Motto „Geschichte trifft Zukunft“ sehr ähnlich. An berührbaren und sichtbaren Denkmälern aus jenem Jahr sind zu erwähnen Peter Pirchers Bronzebüste der Gemeinde Graun für Heinrich Natter, der die Andreas Hofer-Statue am Bergisel entworfen hatte, ein zweiter Frischmann-Gedenkstein an seinem Geburtshaus in Kortsch und die Auffrischung der Fresken am St. Michael-Hof in Latsch. Eine literarische Auseinandersetzung versuchte Pepi Feichtinger mit der Literatursammlung „Tirol 1809 in der Literatur“. Dem Gedenkjahr zu verdanken haben wir die Entstehung des Dorfbuches von Martell durch Erwin Altstätter und Antonia Stricker. Die Marteller hatten das „Frühmesserbuch“ von Josef Eberhöfer als Quelle verwendet. Eberhöfer war in der ebenfalls 1984 erschienenen Kulturzeitschrift „Sturzflüge“ als Mitglied einer „Innsbrucker akademischen Kompanie“ vorgestellt worden. Quasi zwangsrekrutiert haben er und sein Freund Johann Gamper das „Heldenjahr Anno Neun“ aus dem Blickwinkel verlauster und verdreckter Unterkünfte erlebt und sind bei der erst besten Gelegenheit am Bergisel getürmt, zurück „zu den mütterlichen Fleischtöpfen“.
Auf das Gedenkjahr 2009 eingestimmt hat wohl unbeabsichtigt vor vier Jahren der Schlanderser Wirt, damals Bezirksmajor, heute Hauptmann der Schlanderser Schützen, Karl Pfitscher. Er hat allerdings eher am Heldenbild der Vinschger gekratzt, indem er durch die Malser Historikerin Mercedes Blaas die Aufzeichnungen des „Landesverräters Josef Daney“ vorstellen ließ. Daney hatte nur den Talatscher Johann Alber, den Morterer Simon Freiseisen, den Rablander Wirt Johann Gstirner und den Herren auf Obermontani, Josef Graf Mohr, als heldenmütig eingestuft, während er an Franz Frischmann, Martin Teimer und Josef Stecher kein gutes Haar lässt. Überhaupt bezeichnete Daney seine näheren Landsleute als „feuerscheu“, den Schlanderser Hauptmann Johann Kaserer als „feige, hinter einem Hügel schimpflich verkrochen“ und Teimer und Stecher verantwortlich für die räuberischen Ausfälle und Plünderungen im Allgäu. Mit Herzklopfen erwarten daher bestimmte Kreise in Schlanders und Kortsch Pepi Feichtingers Theaterstück „Tod eines Verräters“ mit der Hauptgestalt Josef Daney, aufgeführt von der Heimatbühne Kortsch.
Den ersten, markanten AH-Effekt knapp vor Anbruch des Gedenkjahres haben die heimatkundlich versierten Lehrer Heinrich Moriggl aus Mals und Othmar Pider aus St. Valentin erzeugt. Sie haben geforscht und gesammelt und sorgen nun der Raiffeisenkasse Obervinschgau sei Dank mit einem Kalender für monatliche AH-Erlebnisse in vielen Haushalten zwischen Mals und Reschen. Man kann nur anerkennend staunen, wie viel Verflechtungen der Obervinschger und Oberländer mit den Ereignissen um AH die beiden Kalendermacher entdeckt haben.
In der abgeschirmten Welt seines Privatmuseums in Latsch begeht Hermann Pegger (Titelbild), Enkel des schon erwähnten Heimatforschers Hans Pegger, sein persönliches Gedenkjahr. Was der überzeugte Verehrer der k.k. Zeit mit gewaltigem finanziellen Aufwand an wertvollen Dokumenten und Zimelien angesammelt hat, ist in wenigen, mageren Zeilen nicht auszudrücken. Im ehemaligen Ansitz Verdross, Geburtshaus der Landesverteidiger Dominik und Josef Anton Verdross, verwahrt Pegger Briefe und Schriftstücke signiert von Andreas Hofer, Schreiben des AH-Sekretärs Kajetan Sweth, des Schützenmajors Josef Speckbacher aus Hall, des Kalterer Kommandanten Josef Valentin von Morandell, eine Bestätigung von Major Teimer, Verpflegungs- und Soldlisten aber auch Dokumente von der Gegenseite, Bekanntmachungen der französisch-bayerischen Besatzer und der Beamten des „Regno d’Italia“. Außerdem hat Hermann Pegger in Salzburg das auf beiden Seiten bemalte Schild des Gasthauses „Sandwirth“ aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ersteigert (Titelbild).
Zu erwarten ist, dass das AH-Syndrom mit allen dazu gehörenden Symptomen natürlich in den Schulen und Bibliotheken, unter Bildungsausschüssen und Heimatpflegern auftreten wird. Das Kulturreferat der Gemeinde Mals wird sich mit „Identität und Geschichte“ befassen. Die Malser Kunstführerin Helene Dietl räumt „Anno Neun“ einen Platz in ihren Begehungen ein. In der Gemeinde Naturns wurde die Schriftstellerin Selma Mahlknecht engagiert. Partschins hat ebenfalls einiges „in Petto“. Viel versprechend liest sich die Auflistung der Veranstaltungen in Schlanders. Vom Bergfeuer zur Fotoausstellung, vom Musikstück „Tharerwirt“ zum Vortrag „Zwischen Teilnahme und Ausgrenzung. Tiroler Frauen um 1800“, vom Theaterstück zur Lesung „Märtyrer oder Pferdehändler?“ bis zum Erfassen der Baudenkmäler der Gemeinde Schlanders durch den Bildungsausschuss reicht das „kulturelle Aufgebot“ in der Bezirkshauptstadt. Letzte Siegesmeldung von der „Gedenkfront“: ein Laaser und zwei Schlanderser Oberschüler haben gemeinsam die erste Etappe im Computerspiel „Syndrome 09“ gewonnen.
Günther Schöpf