Einsamkeit

Publiziert in 22 / 2024 - Erschienen am 3. Dezember 2024

Schon wieder so ein Kriecher. Hier dürfte man 70 fahren, aber das Auto vor mir schleicht mit 50 dahin. Aber da ist ja ein „P“ auf der Heckscheibe. Also ein Führerscheinneuling. Das ist verzeihlich. Für andere Leute, die nicht vom Fleck kommen, habe ich kein Verständnis. Mir kommt nicht in den Sinn, dass sich der Mann vor mir vielleicht nicht gut fühlen könnte, dass er mit der Beifahrerin streitet oder andere Probleme hat. Oder sitzt ein „Alter“ am Steuer, ein Tourist, eine super korrekte Person oder jemand, der sich nur ein paar Mal im Jahr auf die Straße wagt. „Das ist sicher eine Frau“, wette ich mit mir selbst. Beim Überholen straft mich dann ein kurzer Blick nach rechts Lügen: Es ist keine Frau. Sich von Vorurteilen zu befreien, ist gar nicht so einfach. Je weniger man versucht, sich in andere hinein zu fühlen, desto kräftiger sprießen die Vorurteile. Dann haben plötzlich alle Albaner ein Messer in der Hosentasche, alle Migranten sind Schmarotzer, alle chronisch Süchtigen sind nur „Alkis“ oder „Junkies“. Die Zeit vor Weihnachten wird gerne als besinnlich bezeichnet, doch für manche Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, ist diese Zeit besonders schwer. Sie gehen in der Hektik zwischen Kaufrausch, Geschenke-Stress und Weihnachtsmärkte-Bussen noch mehr unter. Erst wenn der Heilige Abend kommt, klopft sie auch bei so manchen Leuten an, die sonst in der „Mitte“ leben, die Einsamkeit.

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Josef Laner

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