Verzerrte Werte

Publiziert in 3 / 2017 - Erschienen am 1. Februar 2017
Schlanders - Wir leben in einer Welt der verzerrten Werte und widersprüchlichen Anschauungen. Europa läuft Gefahr, in Nationalismen zu verfallen. Die Frage nach den Kosten rückt in allen Bereichen immer stärker in den Mittelpunkt, während Werte und Würde in den Hintergrund geraten. Es war nicht gerade ein positives, aber wahres Bild, das Andreas Conca bei einem Vortrag in der Bibliothek Schlandersburg von der heutigen Gesellschaft in Europa und in Südtirol zeichnete. Der Universitätsprofessor und Primar der Psychiatrie in Bozen war am 27. Jänner anlässlich des Gedenktages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau für einen Vortrags- und Diskussionsabend nach Schlanders eingeladen worden. Bibliotheksleiter Raimund Rechenmacher meinte, dass man gut daran tue, in Zeiten wie diesen über Werte nachzudenken und über die Zukunft Europas. Conca erinnerte eingangs an das Mädchen Rosa Unterweger aus Schlanders (1931 - 1943), das dem „NS-Euthanasieprogramm“ zum Opfer fiel. Zum heutigen Europa meinte der Referent, dass es starke rechtsradikale Strömungen gebe: „Viele haben Angst vor Marine Le Pen in Frankreich oder der AfD in Deutschland.“ Anstelle von Klarheiten herrsche eine Werteverzerrung. Man müsse sich auch fragen, ob die Sozialabsicherung langfristig halten wird. Selbst der Wert der Demokratie sei verzerrt. Conca erinnerte an die Wahl des US-Präsidenten Trump: „Er wurde demokratisch gewählt. Auch Hitler kam demokratisch an die Macht.“ Das Volk mache es laut Conca nicht immer richtig. Dass es derzeit in Europa und auch in Südtirol ein widersprüchliches Weltbild gibt, machte Conca am Beispiel der Flüchtlinge fest:. „Die einen heißen sie willkommen, die anderen wollen von einer Aufnahme nichts wissen.“ Es sei alles menschlich: Ja sagen ebenso wie Nein sagen, bös ebenso wie gut.“ Als dramatisch wertet Conca die derzeitigen Flüchtlingsströme nicht. Außerdem sei davon auszugehen, dass rund 80 Prozent abgeschoben werden. Zu einem viel gewaltigeren Ausmaß an Migrantenströmen werde in Zukunft der Klimawandel führen. Bedauerlich sei, dass das Thema Flüchtlinge oft nur an der Frage des Preises aufgehängt wird: „In Südtirol heißt es: jeder Flüchtling kostet 28 Euro pro Tag.“ Es sei falsch, die Diskussion beim Preis anzufangen. Damit verliere der Mensch seinen Wert und seine Würde. Unter Würde sei nichts anderes zu verstehen, „als den Menschen die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden. Wir haben leider etwas vergessen, Würde zu leben.“ Frage des Preises immer mehr im Vordergrund Je mehr die Frage des Preises in den Vordergrund rückt, desto mehr geraten der Wert des Menschen und seine Würde unter die Räder. „Wehret den Anfängen und Fortführungen“, mahnte Conca. Anstelle des Preises sollte es bei der Flüchtlingsfrage zunächst um den Wert der Gastfreundschaft gehen: „Jede Gemeinde hat eine bestimmte Gastfreundschaft.“ Zu bedenken gab der Referent, dass der Preis auch in anderen Bereichen Oberhand gewinne, etwa in der Gesundheitspolitik: „Man fragt nach dem Preis einer Therapie und nicht nach deren Wert für den Patienten.“ Auch in der Ethik habe der Utilitarismus Fuß gefasst. Im Mittelpunkt stehe die Frage: was ist günstiger? Die Menschen sollten nicht in Ideologien verfallen und nicht immer nur nach dem Preis fragen, sondern nach dem Wert und der Würde. „Wir alle sind aufgerufen, in der Beziehung und in der Gesellschaft Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Menschen frei entscheiden können.“ Grundsätzlich hielt Conca fest, dass alle Menschen etwas Gutes und etwas Böses in sich haben. Niemand ist perfekt. Für bestimmte Entwicklungen brauche es Zeit. Bisher habe die Menschheit vier Kränkungen erlebt: die Erde ist nicht der Mittelpunkt, der Mensch stammt vom Affen ab, der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus, weil er vom Unbewussten bestimmt wird, und das Gehirn tickt anders als wir meinen. Als 5. Kränkung, die uns noch bevorsteht, nannte Conca die Einsicht, „dass das Machbare nicht immer richtig ist.“ Er nannte in diesem Zusammenhang die Pränatale Diagnostik, sprich vorgeburtliche Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten und Fehlbildungen, und den assistierten Suizid. Nur Schwarzmalerei wollte Conca nicht betreiben. Im Gegenteil: „Wir müssen immer um den Optimismus kämpfen. Und auch einsehen, dass wir Fehler machen.“ Und eine gesunde Portion Relativismus schade auch nicht.
Josef Laner

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