Das unpolitische Geschlecht
„Trotzdem steckt uns die Geschichte in den Knochen“ (Siglinde Clementi).
Schlanders - Die „History tourt“ weiterhin durch die Mittelpunktbibliothek. Diesmal war es die Koordinatorin der Arbeitsgruppe „Geschichte und Region“ und Vizedirektorin des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte Siglinde Clementi, die „eine erlesenen Schar“ (Bibliothekar Raimund Rechenmacher) interessierter Vinschgerinnen und Vinschger in die absolut nicht lineare Frauengeschichte einführte. Dazu stellte die Historikerin unter dem allumfassenden Titel „Liebe, Ehe, Politik und Wirtschaft. Der Weg der Frauen in die Moderne“ drei Biographien aus sogenannten Übergangszeiten vor. Die der Boznerin Anna von Menz (1796-1869) platzierte sie in „die Sattelzeit“ um 1800. Menz verbrachte ihre Kindheit unter der französischen Oberhoheit in Bozen. Sie, die die Heirat mit einem französischen Adeligen ablehnte, war keineswegs eine emanzipierte Frau, wie es die ältere Geschichtschreibung vermittelt, sondern hatte als reiche Boznerin einfach mehr Spielräume. Es ging nie um Geschlechtergleichheit, sondern um Geschlechterdifferenzen, merkte Clementi an. Die Wehrmachtshelferin Hilde Kerer aus Brixen (1919-2018) lebte im „Tiefpunkt der Moderne“ in der Zeit der Weltkriege. Kerer kam aus ärmlichen Verhältnissen und wurde in der Optionszeit wegen der Freundschaft mit einer Dableiberin gemobbt. Die Auswanderung im Zuge der Option habe sie als Erleichterung empfunden. Obwohl Nachrichtenhelferin in Minsk blendete sie in ihrem Tagebuch die Kriegsereignisse weitgehend aus und rückte die Kameradschaft als Zeichen unpolitischen Verhaltens in den Vordergrund. Diese „weibliche Unschuld“ sei dann Teil des „politischen Entlastungsdiskurses in der Nachkriegszeit“ geworden. An den Übergang in die Postmoderne setzte Historikerin Clementi die Biografie der italienischsprachigen Bozner Rechtsanwältin Andreina Ardizzone Emeri (1936-1995). Damals, in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatte man eine formale Gleichstellung der Geschlechter erreicht, nur formal, denn es ging in Wirklichkeit um die Respektierung der weiblichen Geschlechterrolle. Dieser Widerspruch drückte sich in der Frauenbewegung des Feminismus aus. Emeri war dessen wichtigste Vertreterin, war Mitbegründerin der ersten Frauenberatungsstelle und sozial sehr engagiert. Mit der Erkenntnis: „Es ist wichtig, sich mit der Geschlechtergeschichte auseinanderzusetzen, weil uns die Geschichte in den Knochen steckt. Wenn wir uns befreien wollen, müssen wir die großen Zusammenhänge verstehen“, beendete Siglinde Clementi ihre Ausführungen. Auf den 50 Vortragsminuten folgten ein gut 40 minütige Diskussion mit Geschichtskennern unter den Zuhörerinnen und Zuhörern.